VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.12.2000 - 13 S 2540/99 - asyl.net: C1652
https://www.asyl.net/rsdb/C1652
Leitsatz:

Der bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bestehende Anspruch des Ausländers auf eine fehlerfreie Ermessensentscheidung über die Aussetzung der Abschiebung (Duldung) ist nach den vom Senat in seinem Beschluss vom 10.03.2000 - 13 S 1026/99 - (InfAuslR 2000, 378) dargelegten Grundsätzen durch einstweilige Anordnung sicherungsfähig. (Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: D (A), Bosnier, Bosnien-Herzegowina, Duldung, Krankheit, Fokale Epilepsie, Spastische Lähmung, Behinderte, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Medizinische Versorgung, Verfahrensrecht, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Zulässigkeit, Einstweilige Anordnung
Normen: AuslG § 55; AuslG § 53 Abs. 6 S. 1; VwGO § 123
Auszüge:

Der - beim VG hilfsweise gestellte - Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig. Insbesondere kommt insoweit ein Gesuch auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht in Betracht, da die Antragsteller nicht die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs, sondern die Verpflichtung der Antragsgegnerin zum Erlass einer Duldung erstreben; insoweit handelt es sich um ein Begehren, das im Hauptsacheverfahren ausschließlich mit der Verpflichtungsklage zu verfolgen ist, so dass als Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes lediglich dasjenige auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in Betracht kommt (§ 123 Abs. 5 VwGO).

Auch liegt, was für den Erlass einer von den Antragstellern begehrten Regelungsanordnung im Sinne des § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO erforderlich ist, ein streitiges Rechtsverhältnis vor. Hierzu bedarf es grundsätzlich einer vorherigen, erfolglos gebliebenen Antragstellung bei der Behörde (vgl. u. a. Funke-Kaiser in: Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, VwGO, 3 123 Rd. Nr. 40 m.v.N.). Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Denn die Antragsteller haben der Sache nach bereits im Rahmen ihrer Anhörung zum beabsichtigten Erlass einer Abschiebungsandrohung unter Vorlage eines Schreibens der Schule für körperbehinderte Kinder und Jugendliche in ... v. 10.03.1999 die (weitere) Verlängerung der ihnen erteilten Duldungen zumindest bis zur Beendigung der Grundschulzeit der Antragstellerin Ziff. 4 an dieser Schule beantragt. Die Antragsgegnerin hat diesen Antrag zwar noch nicht förmlich beschieden, im vorangegangenen Verwaltungsverfahren bezüglich der Abschiebungsandrohungen sowie im vorliegenden Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes aber zu erkennen gegeben, dass sie beabsichtigt, das entsprechende Begehren der Antragsteller abzulehnen. Dies reicht zur Begründung eines streitigen Rechtsverhältnisses im Sinne des § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO aus (ebenso Funke-Kaiser a. a. O. m. w. N.).

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch begründet. Es kann dahin gestellt bleiben, ob sich das Ermessen der Antragsgegnerin - wofür angesichts der Schwere der der Antragstellerin Nr. 4 bei einer Abschiebung drohenden Gesundheitsgefahren bei Berücksichtigung des Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 GG manches spricht (vgl. die folgenden Ausführungen) - "auf Null" reduziert hat. Denn auch ein gegen die Antragsgegnerin gerichteter Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung ist grundsätzlich ein durch einstweilige Anordnung sicherungsfähiges Recht. Das Unterbleiben einer den Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung sichernden einstweiligen Anordnung würde in Fällen der vorliegenden Art zu einem mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbaren Rechtsschutzdefizit führen. Voraussetzung für eine dieermessensfehlerfreie Entscheidung sichernde Anordnung ist in Fällen der vorliegenden Art im Rahmen der Prüfung des Anordnungsanspruchs die Glaubhaftmachung eines Ermessensfehlers bei Ablehnung (oder Unterlassung) der begehrten Behördenentscheidung und die gerichtliche Prognose anhand der bisher im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu Tage getretenen Umstände, dass die ermessensfehlerfreie (Neu-) Bescheidung durch die Behörde mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zur Erteilung der vom Antragsteller begehrten Duldung führen wird.

Beide Voraussetzungen sind hier gegeben. Die Antragsgegnerin ist bisher - wie ihren Äußerungen im Verwaltungsverfahren bezüglich der gegen die Antragsteller erlassenen Abschiebungsandrohungen und im vorliegenden Verfahren zu entnehmen ist - davon ausgegangen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG im Falle der Antragstellerin Nr. 4 nicht vorliegen. Die von ihr in diesem Zusammenhang angestellten Erwägungen vermögen aber diese Annahme nicht zu stützen. Sie leidet an einer kontinuierlich behandlungsbedürftigen fokalen Epilepsie nach frühkindlichem Hirnschaden (vgl. hierzu das ärztliche Attest der Nervenärztin und Psychotherapeutin... vom 09.06.1999 sowie die ärztliche Bescheinigung des Kinderarztes... vom 08.12.1998). Hinzu kommt eine rechtsbetonte Tetraparese (Lähmung aller Extremitäten), die sich vordergründig als spastische Halbseitenlähmung zeigt; daraus resultieren erhebliche psychomotorische Entwicklungsrückstände sowie eine "expressive Sprachentwicklungsverzögerung" (vgl. die Stellungnahme der Schule für Körperbehinderte vom 10.03.1999). Sie besucht seit dem Schuljahr 1998/99 die Schule für körperbehinderte Kinder und Jugendliche in ... Nach deren Stellungnahme vom 10.03.1999 würde

"eine Abschiebung die gesamte Persönlichkeitsentwicklung des Mädchens jäh unterbrechen und beenden" und die bisher erzielten Entwicklungs- und Förderungsfortschritte zunichte machen, da geeignete Sondereinrichtungen in Bosnien-Herzegowina (was die Antragsgegnerin nicht bestreitet) nicht vorhanden seien. Wenn die Schule für Körperbehinderte in ihrer Stellungnahme vom 10.03.1999 ausführt, die Abschiebung nach Bosnien-Herzegowina würde die gesamte

"Persönlichkeitsentwicklung des Mädchens unterbrechen und beenden", eine "Normalisierung" in den Förderbereichen würde verhindert und als Folge davon müsste sie in großer persönlicher und emotionaler Abhängigkeit verbleiben, so handelt es sich damit entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht nur um Beeinträchtigungen ohne Krankheitswert, sondern um eine gravierende Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes der Antragstellerin Nr. 4 als Folge unzureichender Behandlungsmöglichkeiten in Bosnien-Herzegowina. Unter einer Leibesgefährdung im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG sind auch Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit eines Ausländers ohne Verletzung der äußeren Integrität des Leibes zu verstehen (vgl. das Senatsurteil vom 22. 11. 2000 - A 13 S 348/97 - und GK-AuslR, § 53 RdNrn. 235 f.). Hierzu gehören die von der Schule für Körperbehinderte beschriebenen tief greifenden negativen Folgen für die weitere Persönlichkeitsentwicklung der Antragstellerin Nr. 4, die sich zugleich als gravierende psychische Beeinträchtigungen mit Krankheitswert darstellen.

Die Antragstellerin Nr. 4 begehrt auch entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht etwa eine unzulässige Regelung eines Daueraufenthaltes im Wege der Duldung. Liegt ein zwingendes Abschiebungshindernis vor, so ergibt sich daraus nach § 55 Abs. 2 AuslG so lange ein Duldungsanspruch, wie die Voraussetzungen dieses Abschiebungshindernisses gegeben sind. Ist dies auf Dauer der Fall, ist die Abschiebung auch auf Dauer rechtlich unmöglich im Sinne des § 55 Abs. 2 AuslG mit der Folge eines entsprechenden Duldungsanspruchs. Die Duldung ist daher in derartigen Fällen - wenn nicht, was vorrangig ins Auge zu fassen ist (BverwG, urt. vom 04. 06. 1997, BVerwGE 105, 35), die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung oder Aufenthaltsbefugnis möglich ist - immer wieder zu erneuern (vgl. Senatsbeschluss vom 05. 07. 1999 - 13 S 1101/99 -).