OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 08.11.2001 - 4 LB 2665/01 - asyl.net: C1667
https://www.asyl.net/rsdb/C1667
Leitsatz:

Anspruch gem. § 2 Abs. 1 AsylbLG bei Abschiebungshindernis wegen unverschuldeter Passlosigkeit.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, BSHG, Sozialhilfe, Libanesen, Abgelehnte Asylbewerber, Passersatzpapiere, Identitätsnachweis, Duldung, tatsächliche Unmöglichkeit, Humanitäre Gründe, Freiwillige Ausreise, Auslegung
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1; AuslG § 55 Abs. 2; AuslG § 55 Abs. 3
Auszüge:

Anspruch gem. § 2 Abs. 1 AsylbLG bei Abschiebungshindernis wegen unverschuldeter Passlosigkeit.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG ist abweichend von den §§ 3 bis 7 AsylbLG das BSHG auf Leistungsberechtigte entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten, frühestens beginnend am 1. Juni 1997, Leistungen nach § 3 erhalten haben, wenn die Ausreise nicht erfolgen kann und aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse entgegenstehen.

Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Dass die Kläger die zeitlichen Voraussetzungen des Leistungsbezuges erfüllen, ist zwischen den Beteiligten zu Recht unstreitig. Auch die weiteren Voraussetzungen sind gegeben. Es liegen nämlich bei den Klägern persönliche Gründe vor, aufgrund derer "die Ausreise nicht erfolgen kann und aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können".

Kann ein Ausländer nicht ausreisen und nicht abgeschoben werden, weil ihm Pass- oder Passersatzpapiere fehlen, rechtfertigt auch nach der Rechtsprechung des Senats ein solcher tatsächlicher Grund allein nicht die Vergünstigung des § 2 Abs. 1 AsylbLG durch Gewährung von Leistungen in entsprechender Anwendung des BSHG. Hierzu hat der Senat in seinem Beschluss vom 8. Februar 2001 - 4 M 3889/00 - (NVwZ-Beilage I 7/2001, 89 = FEVS Bd. 52, 419) u. a. ausgeführt:...

An dieser Rechtsauffassung hält der Senat auch für das vorliegende Verfahren fest. Der 12. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts hat sich der zitierten Ansicht des beschließenden Senats zwar nicht angeschlossen und mit Beschluss vom 27. März 2001 - 12 MA 1012/01 - (NVwZ-Beilage I 7/2001, 91 = FEVS Bd. 52, 367) hierzu ausgeführt:...

Der Senat hält aber, wie gesagt, an seiner bisherigen Rechtsauffassung fest. Denn entgegen der Ansicht des 12. Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts können bei der Bestimmung persönlicher oder humanitärer Gründe im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG nicht alle die Umstände, die zur Erteilung einer Duldung aus tatsächlichen Gründen nach § 55 Abs. 2 AuslG führen, ausgeschlossen werden, weil in § 55 Abs. 3 AuslG humanitäre und persönliche Gründe ebenfalls Erwähnung finden, die in § 55 Abs. 2 enthaltenen tatsächlichen Gründe in § 2 AsylbLG aber nicht erwähnt werden. Nach § 55 Abs. 3 AuslG kann eine Duldung u. a. dann erteilt werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe die weitere Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Demgegenüber wird (bindend) gemäß § 55 Abs. 2 AuslG eine Duldung erteilt, solange eine Abschiebung u. a. aus tatsächlichen Gründen unmöglich ist. Diese Struktur schließt im Ausländerrecht eine Entscheidung der Frage, ob tatsächliche Gründe im Sinne von § 55 Abs. 2 AuslG auch humanitäre oder persönliche Gründe im Sinne von § 55 Abs. 3 AuslG sein können, aus. Denn immer dann, wenn tatsächliche Gründe einer Abschiebung entgegenstehen, ist eine Duldung zu erteilen, ohne dass noch zu prüfen ist, ob der Umstand, aus dem sich ein tatsächlicher Grund im Sinne von § 55 Abs. 2 AuslG ergibt, auch ein humanitärer oder persönlicher Grund im Sinne von § 55 Abs. 3 AuslG ist. Die Frage, ob tatsächliche Gründe auch humanitäre und persönliche Gründe sein können, bleibt wegen der Struktur von § 55 AuslG im Ausländerrecht unbeantwortet, weil sie wegen der dargelegten Stufenfolge nicht beantwortet werden muss.

Zur Entscheidung der materiellen Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen tatsächliche Gründe im Sinne des § 55 Abs. 2 AuslG auch persönliche oder humanitäre Gründe im Sinne von § 55 Abs. 3 AuslG oder § 2 Abs. 1 AsylbLG sind, ist deshalb nicht darauf abzustellen, dass in § 2 Abs. 1 AsylbLG im Unterschied zu § 55 Abs. 2 AuslG tatsächliche Gründe nicht benannt werden. Eine derartige Sichtweise orientiert sich nicht am Wortlaut der Regelungen, sondern differenziert allein nach den Wörtern in den Regelungen, ohne die inhaltliche Struktur und den Regelungszusammenhang von § 55 AuslG einerseits und § 2 Abs. 1 AsylbLG andererseits zu beachten. Daraus, dass das AsylbLG hier nicht auf tatsächliche Gründe abstellt, ergibt sich unter Beachtung dieser rechtssystematischen Zusammenhänge, dass nur solche Umstände, die als ausschließlich tatsächliche Gründe beurteilt werden können, nicht berücksichtigt werden. Die entscheidende Frage, wann konkrete Umstände nicht nur tatsächliche Gründe im Sinne von § 55 Abs. 3 AuslG, sondern zusätzlich auch humanitäre oder persönliche Gründe im Sinne von § 55 Abs. 2 AuslG und § 2 Abs. 1 AsylbLG sein können, stellt sich demgegenüber im Ausländerrecht nicht und ist im Rahmen der Voraussetzungen von § 2 Abs. 1 AsylbLG originär zu prüfen. Deshalb trifft auch die Vermutung des 12. Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts nicht zu, es werde damit der Wortlaut des Gesetzes durch eine verfassungskonforme Reduzierung relativiert. Vielmehr geht es um die systematische Interpretation des Gesetzeswortlauts, die nicht durch den Verweis darauf verhindert werden kann, dass in der einen Regelung - § 2 Abs. 1 AsylbLG - einzelne Tatbestände einer anderen Regelung - die tatsächlichen Gründe in § 55 Abs. 3 AuslG - nicht enthalten sind, wenn beide Vorschriften daneben identische Tatbestände - persönliche und humanitäre Gründe - enthalten, deren Regelungsbereiche sich (teilweise) mit dem nicht identischen Tatbestand überschneiden können. Der 12. Senat sieht zwar diese Überschneidungen, nicht aber ihren zentralen Stellenwert in der hier zu entscheidenden Frage. Stattdessen wird die vor diesem Hintergrund gebotene und in dem Beschluss des Senats vom 8. Februar 2001 (a.a.O.) vorgenommene Bestimmung des materiellen Gehalts der persönlichen und humanitären Gründe in § 2 Abs. 1 AsylbLG (und in § 55 Abs. 3 AuslG, obwohl - wie dargelegt - dort nicht von ausländerrechtlicher Bedeutung) ersetzt durch die aus den genannten Gründen nicht durchgreifende Behauptung, bei Umständen, die eine Duldung aus tatsächlichen Gründen erforderten, gebe bereits der Wortlaut der Regelungen vor, dass Leistungen in entsprechender Anwendung des Bundessozialhilfegesetzes nach § 2 Abs. 1 AsylbLG nicht zu gewähren seien. Der beschließende Senat merkt ergänzend an, dass zur inhaltlichen Bestimmung der persönlichen und humanitären Gründe im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG auch der vom 12. Senat in den Vordergrund gerückte typischerweise nur zeitweilige und vorübergehende Charakter tatsächlicher Gründe wenig beitragen kann, da nach § 55 Abs. 1 AuslG die Abschiebung eines Ausländers nach Maßgabe der Absätze 2 bis 4 "zeitweise" ausgesetzt werden kann, der Charakter des vorübergehenden also strukturell bei allen Duldungsgründen vorliegt und zu einer weiteren Differenzierung innerhalb der einzelnen Tatbestände des § 55 Abs. 2-4 AuslG ungeeignet ist.

Der beschließende Senat hält somit - zusammengefasst - an seiner bisherigen Auffassung fest, dass dann, wenn eine Abschiebung oder Ausreise wegen fehlender Pass- bzw. Passersatzpapiere nicht möglich ist, Gründe im Sinne des § 2 Abs. 1 letzter Halbsatz AsylbLG nur dann vorliegen, wenn festgestellt werden kann, dass der Betroffene diese Situation nicht durch eigene Bemühungen beenden kann (ebenso Beschl. v. 25. 4. 2001 - 4 PA 1166/01 -, V. n. b.). Diese Feststellung ist hier zugunsten der Kläger zu treffen. Es ist in ihrem Fall nicht ersichtlich, dass und wie sie Passersatzpapiere beschaffen könnten bzw. durch eigene Bemühungen daran mitwirken könnten.