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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 28.06.2001 - 2 BvR 1330/95 - asyl.net: C1673
https://www.asyl.net/rsdb/C1673
Leitsatz:

Der Verstoß gegen die räumliche Beschränkung einer Duldung ist nicht nach § 92 AuslG strafbar (Art. 103 Abs. 2 GG "nulla poena sine lege" - keine Strafe ohne Gesetz).

§ 92 regelt nur die Strafbarkeit eines Aufenthalts ohne Duldung oder gegen Auflagen nach § 56 Abs. 3 S. 3 (Verbot einer Erwerbstätigkeit). Auch nach der entsprechenden Entscheidung des BGH (U.v. 05.11.96, BGHSt 42, 291) und der damit verbundenen Feststellung einer Strafbarkeitslücke hat der Gesetzgeber anlässlich der Änderung des AuslG 1997 in § 93 Abs. 3 Nr. 1 AuslG lediglich ein Bußgeld, aber keine Strafe für einen Verstoß gegen die räumliche Beschränkung einer Duldung vorgesehen.(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: D (A), Ausländer, Duldung, Räumliche Beschränkung, Verstoß gegen räumliche Beschränkung, Strafverfolgung, nulla poena sine lege
Normen: AuslG § 92 Abs. 1 Nr. 1; GG Art. 103 Abs. 2; AuslG § 55 Abs. 1; AuslG § 56 Abs. 3 S. 1
Auszüge:

Der Verstoß gegen die räumliche Beschränkung einer Duldung ist nicht nach § 92 AuslG strafbar (Art. 103 Abs. 2 GG "nulla poena sine lege" - keine Strafe ohne Gesetz).

§ 92 regelt nur die Strafbarkeit eines Aufenthalts ohne Duldung oder gegen Auflagen nach § 56 Abs. 3 S. 3 (Verbot einer Erwerbstätigkeit). Auch nach der entsprechenden Entscheidung des BGH (U.v. 05.11.96, BGHSt 42,

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Rechts aus Art. 103 Abs. 2 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).

Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die für diese Beurteilung maßgebliche verfassungsrechtliche Frage hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (§ 93 c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

Nach Art. 103 Abs. 2 GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Die Vorschrift verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen (vgl. BVerfGE 71, 108 114>; 73, 206 234>; 92, 1 12>). Jedermann soll vorhersehen können, welches Verhalten mit Strafe bedroht ist.

Für die Rechtsprechung folgt aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit ein Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbegründung. Dabei ist "Analogie" nicht im engeren technischen Sinne zu verstehen. Ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht. Da Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext sein kann, erweist sich dieser als maßgebendes Kriterium. Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Da Art. 103 Abs. 2 GG die Vorhersehbarkeit der Strafandrohung für den Normadressaten garantieren will, ist die Grenze aus seiner Sicht zu bestimmen (vgl. BVerfGE 71, 108 115> m.w.N.).

Der Gesetzgeber hat also zu entscheiden, ob und in welchem Umfang er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz notwendig erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen will. Den Gerichten ist es verwehrt, seine Entscheidung zu korrigieren. Führt erst eine über den erkennbaren Wortsinn der Vorschrift

hinausgehende "Interpretation" zur Strafbarkeit eines Verhaltens, so müssen sie freisprechen. Dies gilt auch dann, wenn infolge des Bestimmtheitsgebots besonders gelagerte Einzelfälle aus dem Anwendungsbereich des Strafgesetzes herausfallen, obwohl sie ähnlich strafwürdig erscheinen mögen wie das vom Strafgesetz zweifelsfrei bezeichnete Verhalten. Es ist dann Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob er die Strafbarkeitslücke bestehen lassen oder durch eine neue Regelung schließen will (vgl. BVerfGE 92, 1 13>).

Amtsgericht und Oberlandesgericht haben ihrer Verurteilung des Beschwerdeführers eine Auslegung des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG zugrundegelegt, die mit dem Wortsinn und dem systematischen Zusammenhang der Vorschrift nicht in Einklang zu bringen ist und deshalb die Vorhersehbarkeit der Strafandrohung für den Normadressaten nicht garantieren kann. Sie überschreitet damit die Grenze zulässiger richterlicher Rechtsanwendung und verstößt gegen Art. 103 Abs. 2 GG.

Die Verurteilung des Beschwerdeführers beruht auf einer Auslegung von § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG, die bereits der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 5. November 1996 (BGHSt 42,291) als mit dem Wortlaut der Vorschrift unvereinbar angesehen hat. Da der mögliche Wortsinn eines Gesetzes nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation markiert, bedeutet der vom Bundesgerichtshof zutreffend festgestellte Auslegungsmangel zugleich einen Verfassungsverstoß nach Art. 103 Abs. 2 GG.

§ 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG stellt einen Ausländer unter Strafe, der sich ohne Aufenthaltsgenehmigung im Bundesgebiet aufhält und "keine Duldung nach § 55 Abs. 1 AuslG" besitzt. Danach kann sich ein Ausländer, der zwar keine Genehmigung zum Aufenthalt im Bundesgebiet hat, aber eine Duldung nach § 55 Abs. 1 AuslG besitzt, nicht nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG strafbar machen.

Die Strafvorschrift präzisiert den Begriff der Duldung, deren Besitz eine Strafbarkeit nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG ausschließt, durch Verweis auf die gesetzliche Legaldefinition der Duldung in § 55 Abs. 1 AuslG. Nach dieser Legaldefinition ist für das Vorliegen einer Duldung allein maßgeblich, dass die Abschiebung des Ausländers aus dem Bundesgebiet zeitweise ausgesetzt ist, unabhängig davon, in welchem Bundesland sich der Ausländer aufhalten darf. Eine Auslegung des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG, die im Falle eines gegen die räumliche Beschränkung nach § 56 Abs. 3 Satz 1 AuslG verstoßenden Aufenthalts in einem anderen Bundesland davon ausginge, der Ausländer "besitze" keine Duldung nach § 55 Abs. 1 AuslG, obwohl seine Abschiebung im Sinne der Legaldefinition des § 55 Abs. 1 AuslG zeitweise ausgesetzt ist, ist mit seinem Wortlaut nicht vereinbar.

Damit scheidet eine Strafbarkeit nach § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG aus, wenn sich ein Ausländer, dem eine Duldung erteilt wurde, außerhalb desjenigen Bundeslandes aufhält, auf dessen Gebiet seine Duldung nach § 56 Abs. 3 Satz 1 AuslG räumlich beschränkt ist. Denn die "räumliche Beschränkung" des § 56 Abs. 3 Satz 1 AuslG bezieht sich nicht auf die für die Strafbarkeit allein maßgebliche Rechtswirkung der Duldung, die für das gesamte Bundesgebiet gilt und dazu führt, dass die Abschiebung des Ausländers zeitweise ausgesetzt ist. § 56 Abs. 3 Satz 1 AuslG trifft nur eine Regelung darüber, in welchem Teil des Bundesgebiets sich der Ausländer während der Zeit der Aussetzung der Abschiebung aufhalten darf. Verlässt der Ausländer dieses Gebiet, ist er nicht, wie es die notwendige Folge einer Aufhebung der Aussetzung der Abschiebung wäre, unverzüglich abzuschieben (§ 56 Abs. 6 Satz 1 AuslG). Er ist vielmehr nur verpflichtet, das Gebiet, in dem er sich unberechtigt aufhält, unverzüglich zu verlassen (§ 36 AuslG). Unabhängig davon, in welchem Teil des Bundesgebiets er sich aufhält, "besitzt" der Ausländer also solange eine Duldung im Sinne der Legaldefinition des § 55 Abs. 1 AuslG, wie die zeitweise Aussetzung seiner Abschiebung nicht aufgehoben oder sonst erloschen ist. Wie der Bundesgerichtshof zutreffend ausführt, ist die räumliche Begrenzung einer Duldung auf das Gebiet eines Bundeslandes gemäß

§ 56 Abs. 3 Satz 1 AuslG demnach nicht Bestandteil der gesetzlichen Definition der Duldung in § 55 Abs. 1 AuslG (BGHSt 42, 291 A292>, sondern eine Bestimmung zur Ausgestaltung der Duldung (vgl. Senge in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 139. Lfg., § 56, Rn. 1), auf die § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG keinen Bezug nimmt. Einer davon abweichenden Auslegung - wie sie die Gerichte in den angegriffenen Entscheidungen zugrundegelegt haben - stehen der Wortlaut und das System des § 92 Abs. 1 Nr. 1 AuslG in Verbindung mit § 55 Abs. 1 AuslG entgegen, wodurch die Vorhersehbarkeit staatlichen Strafens nicht mehr garantiert und Art. 103 Abs. 2 GG verletzt ist.