OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 29.03.2001 - 4 LB 443/01 - asyl.net: C1683
https://www.asyl.net/rsdb/C1683
Leitsatz:

Jüdische Emigranten aus Staaten auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion haben, wenn sie außerhalb des Aufnahmeverfahrens eingereist sind und ihnen deshalb Duldungen erteilt werden, nach § 2 Abs. 1 AsylbLG Anspruch auf Leistungen in entsprechender Anwendung des BSHG, da ihrer Ausreise und Abschiebung humanitäre Gründe und das öffentliche Interesse entgegenstehen.

(amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: D (A), Ukrainer, Juden, Sowjetunion, Asylbewerberleistungsgesetz, Duldung, Humanitäre Gründe, Öffentliches Interesse, BSHG, Sozialhilfe, Freiwillige Ausreise
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1
Auszüge:

 

Die Kläger haben entgegen der Auffassung des VG einen Anspruch darauf, dass ihnen gem. § 2 Abs. 1 AsylbLG Leistungen in entsprechender Anwendung des BSHG seit dem 1.7.2000 gewährt werden.

Denn die freiwillige Ausreise der Kläger kann nicht erfolgen und aufenthaltsbeendende Maßnahmen können nicht vollzogen werden, wenn aus den dort genannten Gründen sowohl eine freiwillige Ausreise nicht erfolgen kann als auch aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können (vgl. bereits Senat, FEVS 52, 282 und 52, 419). Die entgegenstehende Ansicht von Goldmann (Zur Leistungsprivilegierung des AsylbLG, ZfF 2000, 121, 126) lässt sich mit dem Wortlaut des Gesetzes nicht vereinbaren, auch Anhaltspunkte für ein entsprechendes "Redaktionsversehen" (so aber Oestreicher/Schelter/Kunz/Decker, BSHG, Stand: 1.9.2000, § 120 Anhang Rn. 11) sind nicht ersichtlich.

Der Senat nimmt ferner an, dass der Erlass des Niedersächsischen Innenministeriums zur "Durchführung des AsylbLG; Leistungen in den Fällen gem. § 2 AsylbLG" vom 28.4.2000 das Gesetz nicht entsprechend seinem Regelungsgehalt umsetzt. Denn die in dem Erlass vorgenommene Erweiterung der Voraussetzungen, wonach der Leistungsberechtigte entweder eine Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 AsylVfG besitzen müsse oder aber eine Duldung auf der Grundlage des § 55 Abs. 2 AuslG erhalten haben müsse und zugleich die Tatbestandsvoraussetzungen des § 30 Abs. 3 oder 4 AuslG für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis erfüllt sein müssten, ist von § 2 Abs. 1 AsylbLG nicht mehr gedeckt.

Zudem ist zu beachten, dass Einschränkungen der Leistungen nach dem BSHG durch das AsylbLG unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG) nur gerechtfertigt sind, weil die in § 1 Abs. 1 AsylbLG aufgeführten Personen über ein verfestigtes Aufenthaltsrecht nicht verfügen und bei ihnen ein sozialer Integrationsbedarf fehlt (vgl. BVerwG, FEVS 49, 97; OVG Lüneburg, B. v. 27.6.1997 - 12 L 5709/96, NVwZ-Beilage 1997, 95 = Nds. Rpfl. 1997, 269, und B. v. 21.6.2000 - 12 L 3349/99, NVwZ-Beilage 2001, 11 = NDV-RD 2001, 10, sowie B.v. 8.2.2001 - 4 M 3889/00, FEVS 52, 419).

Der Gesetzgeber nahm mit der Neuregelung von § 2 AsylbLG an, dass ein kurzer oder vorübergehender Aufenthalt bei Asylbewerbern in den ersten 36 Monaten gegeben sei. Nach Ablauf dieses Zeitraums sieht das Gesetz eine weitere Einschränkung der Leistungen selbst bei Asylbewerbern, über deren Antrag bis dahin noch nicht abschließend entschieden wurde, nicht vor. Unter Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes kann nichts anderes gelten für Ausländer, die zwar Asylverfahren nicht betreiben, deren Aufenthalt aber aus anderen, nicht allein von ihnen zu verantwortenden Gründen für den genannten Zeitraum geduldet worden ist und weiter geduldet wird.

Für die Kläger ist ein dauerhafter Aufenthalt aufgrund ihrer besonderen Situation gewährleistet, der einen sozialen Integrationsbedarf nach sich zieht und eine weitere Einschränkung der Leistungen nach dem BSHG durch das AsylbLG nicht rechtfertigt. Die Beklagte bescheinigte den Klägern bereits in den Bescheiden vom 10.9.1998, dass sie ihren gemeinsamen Aufenthalt weiterhin, d.h. auf unbestimmte Zeit, dulden werde und verwies insofern auf die jüdische Religionszugehörigkeit der Kläger. Diese Entscheidung beruht darauf, dass die Bundesrepublik Deutschland sich gegenüber Menschen jüdischen Glaubens wegen der Gräuel des Holocaust in einer besonderen Verantwortung sieht (vgl. zum Hintergrund und Zweck des Verfahrens der Aufnahme jüdischer Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion: Hochreuter, Zuwanderung als Wiedergutmachtung, NVwZ 2000, 1376). Abschiebungen jüdischer Emigranten, die nicht im geregelten Aufnahmeverfahren eingereist sind, erfolgen deshalb nicht, weil das öffentliche Intersse der Bundesrepublik Deutschland ein derartiges Vorgehen gegenüber Menschen jüdischen Glaubens nicht zulässt. Dieses öffentliche Interesse stellt für die Kläger zugleich einen humanitären Grund dar, der sowohl ihrer freiwilligen Ausreise als auch aufenthaltsbeendenden Maßnahmen entgegensteht.