OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 08.02.2001 - 4 M 3889/00 - asyl.net: M0010
https://www.asyl.net/rsdb/M0010
Leitsatz:

Zu der Gewährung von Leistungen nach dem AsylbLG bei nicht zu vertretenem Ausreisehindernis. (Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, BSHG, Sozialhilfe, Abschiebung, tatsächliche Unmöglichkeit, Passlosigkeit, Humanitäre Gründe, persönliche Gründe, Auslegung, Vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Beschwerde, Einstweilige Anordnung
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 1
Auszüge:

Der Senat nimmt mit dem Verwaltungsgericht auch an, dass ausländerrechtlich das Fehlen von Pass- oder Passersatzpapieren ein tatsächlicher Grund im Sinne von § 55 Abs. 2 AuslG ist, aus dem die Abschiebung unmöglich ist. Daraus, dass gem. § 55 Abs. 2 AuslG Duldungen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen zu erteilen sind, während nach § 55 Abs. 3 AuslG - unter den Einschränkungen von § 5 Abs. 4 AuslG - Duldungen u.a. aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen erteilt weden können, kann jedoch nicht gefolgert werden, dass tatsächliche Gründe in ausländerrechtlicher Hinsicht nicht (auch) humanitäre oder persönliche Gründe im Hinblick auf § 2 AsylbLG sein können. Anhaltspunkte hierfür lassen sich den Regelungen des AsylbLG nicht entnehmen. Danach schließen Gründe, die einer Rückkehr nur in tatsächlicher Hinsicht entgegenstehen, zwar eine leistungsrechtliche Besserstellung aus, weil sie von § 2 AsylbLG nicht mitumfasst werden. Dies bedeutet aber nicht, dass tatsächliche Gründe nicht zugleich die Annahme eines humanitären, persönlichen oder rechtlichen Grundes rechtfertigen können (vgl. Hohm, Voraussetzungen einer leistungsrechtlichen Besserstellung nach § 2 Abs. 1 AsylbLG, NVwZ 2000, S. 772, 773).

Unabhängig von der ausländerrechtlichen Einordnung von Gründen, die einer Abschiebung entgegenstehen, bleibt somit im Hinblick auf § 2 AsybLG eigenständig zu prüfen, ob entweder diese Gründe auch humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe sind, aus denen die Ausreise nicht erfolgen kann und aufenhaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, oder aber neben den ausländerrechtlich für eine Duldung bereits genügenden Gründen weitere Gründe für eine Zuerkennung von Leistungen entsprechend dem BSHG gem. § 2 As. 1 AsylbLG vorliegen (Senat, Beschl. v. 17.1.2001 - 4 M 4422/00 -).

Nach Classen (Eckpunkte zu § 2 AsylbLG, Asylmagazin 2000, Heft 7-8, S. 31, 34) liegt ein rechtlicher Grund im Sinne von § 2 AsylbLG vor, wenn eine Abschiebung und eine freiwillige Ausreise scheitern, weil Reisedokumente fehlen, der Ausländer aber das Fehlen nicht zu vertreten hat. Classen meint, dass der Begriff der dem Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen oder einer freiwilligen Ausreise entgegenstehenden rechtlichen Gründen im Sinne von § 2 AsylbLG weiter zu fassen sei als der Begriff der rechtlichen Duldungsgründe im Sinne von § 55 Abs. 2 AuslG. Dies ergebe sich bereits daraus, dass der Wortlaut des § 2 AsylbLG in der seit dem 1. Juni 1997 geltenden Fassung im Unterschied zu der vorher gültig gewesenen Fassung nicht mehr auf das Vorhandensein einer Duldung im Sinne des Ausländergesetzes und auch nicht mehr auf die maßgeblichen Gründe für eine Duldungserteilung abstellt, da nicht ausdrücklich auf bestimmte Regelungen des Ausländergesetzes verwiesen werde. Die in § 2 Abs. 1 AsylbLG verwendeten Begriffe seien zwar denen in § 55 Abs. 2 und 3 AuslG ähnlich, aber nicht mit ihnen identisch. So setze nach § 55 Abs. 2 und 3 AuslG eine Duldung "dringende" humanitäre oder persönliche Gründe oder "erhebliche" öffentliche Interessen voraus, diese Steigerungsattribute seien in § 2 AsylbLG aber nicht genannt. Die weitere Auslegung sei auch erforderlich, um den Verfassungsgrundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Sozialstaatlichkeit sowie dem Gleichbehandlungsgrundsatz gerecht zu werden. Damit könnte nicht vereinbart werden, Ausländer zeitlich unbefristet mit gesenkten Leistungen dafür zu sanktionieren, dass sie nicht freiwillig zurückkehren könnten, z.B. weil ihr Herkunftsland zur Ausstellung von Reisedokumenten bzw. einer Aufnahme nicht bereit sei oder weil dorthin kein Reiseweg existiere, ohne dass die betroffenen Ausländer es in der Hand hätten, hieran irgendetwas zu ändern.

Der Senat nimmt aus den genannten verfassungsrechtlichen Gründen, aber auch auf Grund von Sinn und Zweck der Regelungen des AsylbLG die Voraussetzungen von § 2 Abs. 1 AsylbLG in den von Classen erwähnten Fallkonstellationen an.

Ist - wie hier - eine Abschiebung oder Ausreise wegen fehlender Pass- bzw. Passeratzpapiere nicht möglich, liegen Gründe im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG folglich nur dann vor, wenn festgestellt werden kann, dass der Betroffene diese Situation nicht durch eigene Bemühungen, etwa durch die Benennung seines Herkunftslandes und des Namens unter dem er dort registriert ist, beenden kann. Auf Grund der eingangs, im Zusammenhang mit den Voraussetzungen von § 1 a AsylbLG dargelegten konkreten Umstände nimmt der Senat für den Antragsteller eine derartige Situation an. Diese Umstände lassen, jedenfalls zur Zeit, nicht erkennen, dass der Antragsteller Angaben zu seiner Identität und Herkunft vorenthält oder verfälscht und aus diesem Grund die Ausstellung von Pass- oder Passersatzpapieren vereitelt. Vielmehr ist zumindest plausibel, dass er als irakischer Kurde nach einer Flucht in den Libanon nunmehr weder vom Irak noch vom Libanon und auch nicht von dem zwischen beiden Ländern liegenden Syrien als jeweiliger Staatsangehöriger anerkannt wird.

Auf Grund der dargelegten Umstände liegt jedenfalls ein persönlicher und humanitärer Grund vor, der dem Vollzug einer Abschiebung oder einer freiwilligen Ausreise des Antragstellers im Hinblick auf § 2 Abs. 1 AsylbLG - unabhängig davon, dass gleichzeitig ein tatsächlicher Grund für die Erteilung einer ausländerrechtlichen Duldung vorliegt - entgegen steht. Denn ähnlich einer lebensbedrohlichen Krankheit, die im Heimatland nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand behandelt werden kann, sieht sich der Antragsteller durch die Weigerung der benannten Länder, ihn als Staatsangehörigen anzuerkennen, einer von ihm nicht beeinflussbaren Lage ausgesetzt, die im Falle einer Abschiebung oder freiwilligen Ausreise eine ihm unzumutbare humanitäre Zwangslage entstehen ließe, weil es ihm unmöglich ist, in den Irak, den Libanon oder nach Syrien (legal) einzureisen und dort zu bleiben. Auch anderenorts würde ihm die Einreise und der Aufenthalt verwehrt, weil er über die erforderlichen Papiere nicht verfügt.