OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 01.03.2001 - 1 L 649/00 - asyl.net: M0415
https://www.asyl.net/rsdb/M0415
Leitsatz:
Schlagwörter: Angola, Minderjährige, Situation bei Rückkehr, Abschiebungshindernis, Existenzminimum, Versorgungslage, Kindersterblichkeit, Extreme Gefahrenlage, Eltern, Gemeinsame Rückkehr, Vater, FLEC-FAC, Exilpolitische Betätigung, Sippenhaft
Normen: AuslG § 53 Abs. 6 S. 1
Auszüge:

Die Auskunftslage lässt es trotz der gegenüber Erwachsenen verschärften und schwierigeren Bedingungen, unter denen Kinder bis zu fünf Jahren in Angola leben müssen, nicht zu, der Klägerin Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu gewähren.

Bei der Einschätzung, welche zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisse bestehen, hat die Beklagte und damit auch der Senat nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgericht (Urt. V. 12.9.1999 - 9 C 12.99 -, BVerwGE 109, 305 = InfAuslR 2000, 93 = EZAR 043 Nr. 41) eine möglichst realitätsnahe, wenngleich hypothetische Rückkehrsituation zugrunde zu legen. Realistisch ist hier allein, dass die Klägerin nicht allein nach Angola abgeschoben wird, sondern zusammen mit ihrer Familie, d.h. namentlich mit ihren Eltern und ihren Geschwistern nach Angola "zurückkehren" würde. Denn es ist damit zu rechnen, dass die Ausländerbehörden den Schutz, den Art. 6 Abs. 1 GG für die familiäre Begegnungsgemeinschaft garantiert, beachten und die erst rund zwei Jahre und drei Monate alte Klägerin nicht allein nach Angola zurückkehren lassen würde.

Dort besteht nicht die Gefahr, dass entweder die Klägerin selbst oder ihr Vater wegen früherer Tätigkeiten für die FLEC-FAC getötet und schwersten Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sein würde. Dementsprechend kann auch nicht angenommen werden, der Vater der Klägerin werde als Person "ausfallen", welche in Angola (u.a.) für die Klägerin zu sorgen hätte.

Eigene Verfolgung braucht die Klägerin schon deshalb nicht zu befürchten, weil nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 5. Mai an das VG Neustadt an der Weinstraße Anhaltspunkte für die Annahme von Sippenhaft nicht bestehen. Es bestehen auch keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Annahme, der Vater der Klägerin werde im Falle seiner Rückkehr wegen früherer Tätigkeiten für die FLEC-FAC politisch motiviert verfolgt werden. Das ergibt sich bereits aus dem am 8. Mai 1996 vom angolanischen Parlament beschlossenen Amnestiegesetz (vgl. dazu etwa Lagebericht des Auswärtigen Amtes v. 22.12.1998). Dieses umfasst alle Straftaten, die von angolanischen Staatsangehörigen im Zusammenhang mit der militärischen Auseinandersetzung des Bürgerkrieges zwischen 1991 und dem 8. Mai 1996 begangen wurden. Amnestiert wurden sogar alle militärischen Straftaten. Erst recht kann daher der Vater der Klägerin, der vor dem 8. Mai 1996 in die Bundesrepublik eingereist ist, erwarten, er werde wegen der behaupteten Verteilung von Zeitungen der FLEC-FAC in Luanda weiter verfolgt werden. Für die Annahme, etwaige exilpolitische Tätigkeiten, welche nach dem 8. Mai 1996 vorgenommen worden sind, begründeten die Gefahr politischer Verfolgung, bestehen ausreichende Anhaltspunkte nicht. Das Institut für Afrikakunde (vgl. z.B. Auskunft v. 9.7.1996 an das VG Arnsberg) hält zwar staatliche Verfolgung bei identifizierbaren Anhängern der Sezessionsbewegungen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit für gewiss. Aus seiner Auskunft vom 19. April 1999 an das VG Aachen ergibt sich indes, dass für die Annahme, passive exilpolitische Betätigung in Deutschland für die FLEC-FAC werde im Falle der Rückkehr schwere Verfolgung auslösen, kein Hinweis besteht. Dasselbe gilt nach dem Inhalt der Darstellungen des Auswärtigen Amtes (vgl. etwa Lageberichte v. 22.12.1998, v. 8.12.1999 und v. 15.11.2000; Auskunft v. 7.2.1997 an das VG Arnsberg: Keine Verfolgung nur politisch tätiger Aktivisten, wenngleich nicht auszuschließen ist, dass ihre Aktivitäten den Verfolgungsbehörden bekannt werden; vgl. auch Auskunft v. 2.6.1997 an das VG Magdeburg).

Sonstige speziell in der Person der Klägerin erfüllte Gesichtspunkte, welche gerade in ihrem Fall die Abschiebung nach Angola als unzumutbar erscheinen lassen würden, hat die Klägerin auch auf Befragen in der mündlichen Verhandlung - etwa in gesundheitlicher Hinsicht - nicht geltend zu machen vermocht. Dementsprechend kann sie auf Grund der allgemeinen Gefahrenlage in Angola allenfalls unter den Voraussetzungen Abschiebungsschutz erlangen, welche das Bundesverwaltungsgericht in verfassungskonformer Auslegung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG entwickelt hat. Diese weist zwar gegenüber der Situation, in die zurückkehrende Erwachsene ohne gesundheitliche Probleme gestellt werden, einige Besonderheiten und unbestreitbare "Verschärfungen" auf. Diese erreichen indes noch kein Grad, dass man mit hoher Wahrscheinlichkeit würde sagen können, die Klägerin würde im Falle der Rückkehr mit ihrer Familie sehenden Auges dem sicheren Tode überliefert werden.

Die Familie der Klägerin wird in Angola zwar einen Zustand vorfinden, der ihr erhebliche Schwierigkeiten bereiten wird, wieder Fuß zu fassen (vgl. etwa auch Institut für Afrikakunde, Auskunft v. 31.8.1995 an das VG Neustadt/Weinstraße; UNHCR v. 4.7.2000, Asylmagazin 2000, 214). Die Familie muss sich erst die Orientierung über die lebensnotwendigen Hilfsorganisationen verschaffen und notwendige Beziehungen knüpfen, die für den täglichen Überlebenskampf erforderlich sind. Zu berücksichtigen ist andererseits, dass u.a. nach den Schilderungen von ai (Auskunft v. 30.7.1997 an das OVG Magdeburg) die zunehmend verknappten Mittel international tätige Hilfsorganisationen, wie z.B. das World Food Program (WFP), zwingen, die eingeschränkten Ressourcen nur noch an besonders gefährdete Gruppen wie unterernährte Kinder unter fünf Jahren, Waisen, Alte, Gebrechliche oder Schwerkranke zu geben. Da die Klägerin zu diesem Personenkreis gehören kann, wird die Wahrscheinlichkeit, zu den 30 % zu gehören, welche das 5. Lebensjahr nicht erreichen/überleben, verringert. Es kommt hinzu, dass ihr die Eltern sowie beide älteren Geschwister in gewissem Umfang das familiäre Netzwerk werden bieten können, welches nach der Auskunft des Instituts für Afrikakunde vom 15. Oktober 1998 an das VG München einen gewissen Schutz gegen Elend und Armut bildet. Die Hilfsorganisationen (auch) nichtstaatlicher Art haben zwar zum Teil mit solchen Schwierigkeiten zu kämpfen, welche ihnen ausgerechnet die angolanische Regierung bereitet (vgl. UNHCR-Positionspapier v. September 1999). Die Regierungen mögen auch zunehmend das Interesse an Angola verlieren mit der Folge, dass die Entwicklungsgelder zunehmend spärlich fließen und damit auch die internationalen Hilfsorganisationen mit zunehmend geringeren finanziellen Ressourcen ausgestattet sind. All das lässt zwar eine gewisse Zuspitzung der Lage in Angola, jedoch nicht mit dem zu fordernden erhöhten Maßstab (vgl. nochmals BVerwG v. 19.11.1996 - 1 C 6.95 -, BVerwGE 102, 249, 259 = EZAR 033 Nr. 10) erwarten, es bestehe deshalb ein zwingendes Abschiebungshindernis, weil die Klägerin gleichsam sehenden Auges dem physischen Untergang oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde, wenn sie nach Angola abgeschoben würde.