VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.07.2001 - A 12 S 199/00 - asyl.net: M0942
https://www.asyl.net/rsdb/M0942
Leitsatz:

Kurden aus der Türkei droht nicht dadurch politische Verfolgung, dass das türkische Militär türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit während des Wehrdienstes auch in ihrer Herkunftsregion einsetzt.(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Türkei, Kurden, Folgeantrag, Festnahme, Verhör, Glaubwürdigkeit, Interne Fluchtalternative, Nachfluchtgründe, Objektive Nachfluchtgründe, Familienangehörige, Abschiebungsschutz, Sippenhaft, Subjektive Nachfluchtgründe, Exilpolitische Betätigung, Demonstrationen, Hungerstreik, Kurdische Volkstanzgruppe, Kurdischer Verein, Wehrdienstentziehung, Strafverfolgung, Politmalus, Wehrpflicht, Gruppenverfolgung, Interne Fluchtalternative, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen
Normen: AuslG § 51 Abs. 1
Auszüge:

"Besonderheiten" im Sinne der Senatsrechtsprechung ergeben sich nicht mit Blick auf die familiäre Situation des Klägers unter dem Gesichtspunkt der "Sippenhaft". Eine "Sippenhaft" in Form strafrechtlicher Verfolgung findet in der Türkei nicht statt (Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 07.09.1999 und vom 22.06.2000; ai, 22.07.1996 an VG Stuttgart; Kaya, 22.05.1995 an VG Mainz).

In Betracht zu ziehen ist bei Einreisekontrollen "Sippenhaft" in Form von Repressalien im Allgemeinen allenfalls gegen nahe Angehörige von "PKK-Aktivisten", die per Haftbefehl gesucht werden (Senatsurteile vom 17.01.1995 - A 12 S 64/92 -, vom 02.07.1998 - A 12 S 1006/97 -, vom 07.10.1999 - A 12 S 981/97 -, vom 24.02.2000 - A 12 S 1825/97 -, vom 13.09.2000 - A 12 S 2112/99 - und vom 22.03.2001 - A 12 S 280/00 -; vgl. ai, 03.02.1993 an Bayerischen VGH; Kaya, 03.04.1996 an VG Neustadt/Weinstraße, 16.03.1997 an VG Gießen, 11.03.1998 an VG Berlin; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25.01.2000 8 A 1292/96.A -, RdNrn. 365 f., vgl. weiter Hessischer VGH, Urteil vom 13.12.1999 - 12 UE 2984/97.A -: Keine Sippenhaft nur deshalb, weil Verwandte als Asylberechtigte anerkannt sind oder ein Asylverfahren betreiben; einschränkend dagegen Taylan, Aussage vom 15.05.1997 vor dem VG Gießen; Auswärtiges Amt, 06.04.1995 an VG Neustadt/Weinstraße).

Der Kreis der von "Sippenhaft" betroffenen Personen ist dabei grundsätzlich auf Ehegatten, Eltern, Kinder und Geschwister beschränkt. Diese Beschränkung erklärt sich schon daraus, dass sich die Verwandtschaft bezüglich EItern, Kindern und Geschwistern anhand der Eintragungen im Personalausweis des Betroffenen sofort erkennen lässt, da daraus die Namen von Vater und Mutter hervorgehen. Für Ehegatten gilt im Ergebnis Entsprechendes, weil die Personenstandsregistrierung einer Frau mit der Eheschließung an den Ort verlegt wird, an dem ihr Ehemann gemeldet ist (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25.01.2000 - 8 A 1292/96.A -, RdNr. 377; zum Alter von Kindern: RdNrn. 379 ff.).

Bei der Einreise in die Türkei erfolgt eine genaue Kontrolle der Personalien des Einreisenden, insbesondere wird geprüft, ob sein Name auf der Fahndungsliste steht, etwa bei Vorliegen eines Haftbefehls, oder ob Ein- oder Ausreiseverbote oder andere "Besonderheiten" im oben erwähnten Sinne vorliegen. Eine systematische Kontrolle auf "Sippenhaft" ist nicht bekannt und wäre auch aus praktischen Gründen allenfalls eingeschränkt möglich. Wenn die Betroffenen nicht selbst die fraglichen Verwandtschaftsverhältnisse angeben, lässt sich bei der Einreise anhand der Eintragungen im Personalausweis allenfalls eine Verwandtschaft zu den genannten nahen Angehörigen feststellen. Die - weitere - Verwandtschaft etwa zu Onkel, Tante, Cousin und Cousine ist allein durch Kontrolle der Personalien nicht festzustellen. Um solche Verwandtschaftsverhältnisse festzustellen, müssten aufwändige Nachforschungen bis "hinunter" zum Heimatort angestellt werden (vgl. hierzu aus- führlich Kaya, 16.03.1997 an VG Gießen; Taylan, Aussage am 15.05.1997 vor dem VG Gießen). Bei der Kontrolle der Personalien einer Person werden jedoch nur die persönlichen Daten dieser Person überprüft (Kaya, 16.03.1997 an VG Gießen). Die Nachforschungen bei der Einreise konzentrieren sich in erster Linie auf Fahndungsmaßnahmen oder Einreiseverbote gegen den Rückkehrer selbst. Die Situation von Verwandten und die Beziehung zu diesen wird bei Gelegenheit der Einreisekontrollen grundsätzlich nicht erforscht. Solche Nachforschungen werden allenfalls aus einem besonderen Anlass angestellt.

Von der Einreisesituation ist grundsätzlich zu unterscheiden die Gefährdung von (zurückgekehrten) Verwandten "vor Ort", zumal in der Südosttürkei (vgl. hierzu Rumpf, 15.05.1997 an VG Hamburg). Das Auswärtige Amt (vgl. etwa Lagebericht vom 07.09.1999, 03.08.1999 an VG Stuttgart, 02.07.1999 an VG Kassel, 04.06.1999 an VG Freiburg) bestätigt, dass im Rahmen von Fahndungsmaßnahmen Familienangehörige zu Vernehmungen z. B. über den Aufenthalt von Gesuchten geladen werden. Die Einbeziehung des persönlichen Umfelds eines Gesuchten gehört zu einer routinemäßig durchgeführten Ermittlungsarbeit. Freilich sind angesichts der dabei von den türkischen Sicherheitskräften verwandten Vernehmungsmethoden nach wie vor Übergriffe zu verzeichnen, was auch vom Auswärtigen Amt bestätigt wird (vgl. etwa 03.08.1999 an VG Stuttgart, 02.07.1999 an VG Kassel, 04.06.1999 an VG Freiburg). Der Zugriff auf nahe Angehörige setzt indes regelmäßig gezielte polizeiliche oder staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen den betreffenden Angehörigen voraus. Den Erkenntnisquellen ist nämlich nicht zu entnehmen, dass sich die in der Türkei festzustellende Praxis von "Sippenhaft" auch auf Angehörige von bloßen Sympathisanten terroristischer staatsfeindlicher Organisationen erstreckt.

Das Verwaltungsgericht hat allerdings im Falle des Bruders xxxxxxxx angenommen, diesem drohe auch aufgrund seiner exilpolitischen Aktivitäten in der Bundesrepublik bei einer Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung. Die diesbezüglichen Feststellungen sind nach der Überzeugung des Senats indes ebenfalls nicht geeignet, eine Gefährdung des Klägers unter dem Gesichtspunkt der "Sippenhaft" zu begründen. Dies gilt bereits deshalb, weil der Senat nicht festzustellen vermag, dass die exilpolitischen Aktivitäten xxxxxxxx xxxxxxx die nach der ständigen Senatsrechtsprechung maßgebliche Schwelle der Exponiertheit erreicht haben. Ist aber die exilpolitische Betätigung einer Person bereits nicht geeignet, im Falle der Rückkehr die beachtliche Gefahr eigener politischer Verfolgung auszulösen, muss dies erst recht gelten für das - abgeleitete - Risiko "sippenhaftähnlicher" Maßnahmen gegenüber Angehörigen (Senatsurteil vom 05.04.2001 - A 12 S 198/00 -).

Im vorliegenden Fall ergeben sich "Besonderheiten" schließlich auch nicht im Zusammenhang mit der Erfüllung der Wehrpflicht. Nach dem türkischen Wehrpflichtgesetz (Gesetz Nr. 1111 vom 21.06.1927) beginnt die Wehrpflicht am 1. Januar des Jahres, in dem das 20. Lebensjahr vollendet wird. Ein Recht zur Verweigerung des Wehrdienstes besteht nicht (Rumpf, 23.01.2001 an VG Augsburg; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 22.06.2000). Wehrpflichtige werden im Alter von 19 Jahren zur Musterung aufgefordert. Die Einberufung zum Wehrdienst erfolgt grundsätzlich zum 1. Mai oder zum 1. November desjenigen Jahres, in dem der Wehrpflichtige das 21. Lebensjahr vollendet (vgl. hierzu Niedersächsisches OVG, Urteil vom 22.01.1998 - 11 L 4300/96 -). Nach der im Februar 1994 beschlossenen Änderung des Militärstrafrechts (Art. 63 MilitärStGB) ist für Wehrpflichtige, die nicht zur Musterung erscheinen, für Gemusterte, die bei Eintritt in das 20. Lebensjahr noch nicht beim Personenstandsamt registriert und auch nicht bei den Militärbehörden erfasst sind, sowie für Wehrpflichtige, die sich trotz Einberufung dem Wehrdienst entziehen, eine abgestufte Bestrafung mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren vorgesehen, die abhängig ist von der Dauer der Entziehung und davon, ob sich der Betroffene stellt oder ob er gefasst wird (zum Strafmaß im einzelnen vgl. Auswärtiges Amt, 09.03.1998 an VG Bremen). Art. 66 MilitärStGB sieht für Fahnenflucht Freiheitsstrafen von einem Jahr bis zu drei Jahren vor (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 22.06.2000). Was das Strafmaß anbelangt, wird bei Wehrdienstentziehung anders als bei Desertion nicht nach Verbleib in der Türkei oder Ausreise ins Ausland unterschieden (Auswärtiges Amt, 09.03.1998 an VG Bremen; Kaya, 17.03.1997 an VG Stuttgart). In der Praxis, die sich durch öffentliche Zustellung entsprechender Urteile über das türkische Amtsblatt verfolgen lässt, orientieren sich die Gerichte am unteren Bereich des Strafrahmens. Die Verurteilungen schwanken zwischen sieben Tagen und fünf Monaten. Darüber hinaus bis zu fünfzehn Monaten gehen die Strafen in der Praxis erst, wenn Art. 66 MilitärStGB zur Anwendung kommt, was voraussetzt, dass der Wehrdienst bereits angetreten wurde. Überwiegend weisen die Urteile die Umwandlung der Freiheitsstrafen in Geldstrafen aus, die inflationsbedingt - umgerechnet - meist nur wenige DM ergeben (zum Ganzen Rumpf, 23.01.2001 an VG Augsburg).

Ausgehend hiervon kann nicht ausgeschlossen werden, dass der mittlerweile 23jährige Kläger einen im Zusammenhang mit der Erfüllung der Wehrpflicht stehenden Straftatbestand verwirklicht hat. Eine etwaige Bestrafung von Kurden wegen Wehrdienstentziehung knüpft indes nicht an asylerhebliche Merkmale an (vgl. die dem Prozessbevollmächtigten des Klägers mitgeteilten Urteile des Senats vom 22.07.1999 - A 12 S 1891/97 - und vom 07.10.1999 - A 12 S 981/97 -; ebenso z. B. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25.01.2000 - 8 A 1292/96.A -, RdNrn. 353 ff.).

Ebenso droht Kurden aus der Türkei weder durch die Einberufung noch bei der Ableistung des Wehrdienstes politische Verfolgung (vgl. die genannten Senatsurteile). Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass das türkische Militär seine frühere Praxis geändert hat und mittlerweile türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit während des Wehrdienstes auch in ihrer Herkunftsregion einsetzt (Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 07.09.1999 und vom 22.06.2000; ai, 13.01.1999 an VG Koblenz; Schlussbericht über das 6. Country of Origin Information Seminar des ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation -, vom 13./14.11.2000 in Wien, S. 97). Für einen aktiven Kampfeinsatz kurdischer Wehrpflichtiger im Rahmen der Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Militär und der PKK im Südosten der Türkei fehlt es nach wie vor an greifbaren Anhaltspunkten (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25.01.2000 - 8 A 1292/96.A -, RdNrn. 345 ff.; OVG Saarland, Beschluss vom 27.10.2000 - 9 Q 56/0 -), so dass die frühere Einschätzung des Senats, ein derartiger aktiver Kampfeinsatz im Krisengebiet sei jedenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich (Urteile vom 22.07.1999 - A 12 S 1891/97 - und vom 21.07.1998 - A 12 S 2806/96 -), aufrechtzuerhalten ist. Dies gilt um so mehr, als die PKK - auch als Folge der wiederholten Aufrufe Öcalans zur Aufgabe des bewaffneten Kampfes - zwischenzeitlich ihre bewaffneten Aktionen jedenfalls weitgehend eingestellt hat und deshalb im Südosten der Türkei nur noch vereinzelte Zusammenstöße zwischen Armee-Einheiten und Angehörigen der PKK zu verzeichnen sind (vgl. den Schlussbericht über das 6. Country of Origin Information Seminar des ACCORD, a.a.O., S. 97; Kaya, 10.03.2001 an VG Sigmaringen; Rumpf, 23.01.2001 an VG Augsburg; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 22.06.2000; vgl. auch ai, Jahresbericht 2001, S. 574 sowie OVG Saarland, Beschluss vom 27.10.2000 - 9 Q 56/0 -).