VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 08.03.2007 - 4 K 2204/05.A - asyl.net: M10012
https://www.asyl.net/rsdb/M10012
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Machtwechsel, Baath, Verfolgungssicherheit, Genfer Flüchtlingskonvention, Wegfall-der-Umstände-Klausel, allgemeine Gefahr, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Anerkennungsrichtlinie, zwingende Gründe, Ermessen, Zuwanderungsgesetz, Anwendungszeitpunkt, Beurteilungszeitpunkt, Übergangsregelung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, medizinische Versorgung, Versorgungslage, Racheakte
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; GFK Art. 1 C Nr. 5; RL 2004/83/EG Art. 11 Abs. 2; AsylVfG § 73 Abs. 2a; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet. Der angefochtene Widerrufsbescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten im Sinne des §113 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

§ 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG entspricht inhaltlich der sog. "Beendigungs-" bzw. "Wegfall-der-Umstände-Klausel" in Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK, die sich ebenfalls ausschließlich auf den Schutz vor erneuter Verfolgung bezieht.

Demgegenüber werden allgemeine Gefahren (z. B. auf Grund von Kriegen, Naturkatastrophen oder einer schlechten Wirtschaftslage) von dem Schutz des Art. 1 A Nr. 2 GFK nach Wortlaut und Zweck dieser Bestimmung ebenso wenig umfasst wie von Art. 1 C Nr. 5 Satz 1 GFK.

Die für eine Widerrufsentscheidung zu fordernde nachträgliche entscheidungserhebliche Veränderung der maßgeblichen Verhältnisse im Vergleich zu denjenigen zum Zeitpunkt der Anerkennungsentscheidung liegt vor. Auf sich beruhen kann insoweit, ob der Kläger den Irak unter dem Druck erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung durch das Baath-Regime Saddam Husseins verlassen hat. Er ist vor einem Wiederaufleben der Verfolgung durch dieses frühere Regime im Irak, mithin einer gleichartigen Verfolgung im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, vgl. Urteil vom 18. Februar 1997 - 9 C 9.96 -, BVerwGE 104, 97, hinreichend sicher.

Dem Kläger droht schließlich auch keine nichtstaatliche Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG. Für die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer solchen Verfolgung liegen hier bereits deshalb keine konkreten Anhaltspunkte vor, weil die seitens des Klägers behauptete Verfolgungsgefahr nicht an die im Gesetz genannten Merkmale - Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe - anknüpft.

Dem steht die Richtlinie 2004/83/EG vom 30. September 2004 - Qualifikationsrichtlinie - nicht entgegen. § 60 Abs. 1 AufenthG ist auch unter Beachtung der Qualifikationsrichtlinie in seinem Kerngehalt nicht anders auszulegen als der bisherige § 51 Abs. 1 AuslG, vgl. OVG NRW, Urteil vom 4. April 2006, a.a.O.; Beschluss vom 18. Mai 2005 - 11 A 533/05.A - mit näherer Begründung. Insbesondere orientiert sich Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie, der die Bedingungen für das Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft regelt, nahezu wortgleich an Art. 1 C der Genfer Flüchtlingskonvention und stellt dementsprechend Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie klar, dass für die Frage des Erlöschens der Flüchtlingseigenschaft entscheidend ist, ob die Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung nicht länger als begründet angesehen werden kann.

Ob dem Ausländer aus sonstigen Gründen (Kriminalität, Hungersnot, medizinische Versorgungslage) eine Rückkehr tatsächlich zugemutet werden kann, ist demzufolge für die Entscheidung über den Fortbestand oder das Erlöschen des Flüchtlingsstatus ohne Bedeutung.

§ 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG steht der Widerrufsentscheidung des Bundesamtes nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift ist von einem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte).

Demgegenüber schützt die Vorschrift nicht gegen allgemeine Gefahren.

Der am 1. Januar 2005 in Kraft getretene § 73 Abs. 2a AsylVfG kann die Rechtswidrigkeit der vorliegenden Widerrufsentscheidung nicht begründen. Dieses neu eingeführte, mehrstufige Verfahren stellt eine zukunftsbezogene Regelung dar, durch welche in den Fällen ein bindender Auftrag an die Behörde erteilt wird, in denen bei Inkrafttreten der Vorschrift noch keine Aufhebungsentscheidung ergangen war; dementsprechende hat die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf vorliegen, spätestens bis zum 1. Januar 2008 zu erfolgen, vgl. BVerwG, Urteil vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 -; OVG NRW, Urteil vom 4. April 2006, a.a.O.; Kammerurteile vom 11. August 2005 - 4 K 1219/05 und 4 K 642/05 -.

Hiervon ausgehend liegt im vorliegenden Fall ein Verstoß gegen die Fristvorschrift des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG nicht vor. Im übrigen könnte sich der Kläger hierauf auch nicht berufen, weil die Vorschrift kein subjektiv-öffentliches Recht vermittelt, vgl. OVG NRW, Urteil vom 4. April 2006, a. a. O.; Beschlüsse vom 12. Dezember 2005 - 21 A 4681/05.A - und vom 17. März 2006 - 9 A 854/06.A -.

Eine entsprechende Anwendung des § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylVfG - Ermessensentscheidung, wenn die Anerkennungsentscheidung des Bundesamtes mehr als drei Jahre zurückliegt und eine Prüfung der Widerrufsvoraussetzungen nicht erfolgt ist - kommt nicht in Betracht.

Die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG sind ebenfalls nicht gegeben, denn von einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit des Klägers kann nicht ausgegangen werden.

Hierfür lassen sich weder aufgrund der allgemeinen Sicherheitslage noch aus individuellen Gründen hinreichende Anhaltspunkte feststellen. Zwar ist die allgemeine Kriminalität im Irak seit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein stark angestiegen und ereignen sich täglich Terrorakte mit Toten und Verletzten. Es kann jedoch nicht außer Betracht bleiben, dass sich diese Anschläge überwiegend gegen Polizisten, Soldaten, Intellektuelle, Ärzte und Politiker richten. Für andere Bevölkerungsgruppen kann vor diesem Hintergrund von einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben (noch) nicht ausgegangen werden.

Hiervon unabhängig ist von der problematischen Sicherheitslage ebenso wie von der unzureichenden Versorgungslage und der mangelhaften medizinischen Versorgung, vgl. zu alledem Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24. November 2005; UNHCR, Herkunftsländerinformation - Irak vom August 2004 und Stellungnahme an das VG Neustadt vom 1. Dezember 2004; Deutsches Orient-Institut, Stellungnahme an das VG Regensburg vom 27. Oktober 2003; SFH, Irak - Die aktuelle Lage, 20. Mai 2004, die Bevölkerung des Irak in ihrer Gesamtheit betroffen, sodass nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG die daraus erwachsenden Gefahren nur bei einer Entscheidung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 AufenthG berücksichtigt werden könnten. Auf Grund einer verfassungsgemäßen Interpretation fielen sie - wofür im vorliegenden Fall allerdings keine konkreten Anhaltspunkte ersichtlich sind - allenfalls dann unter § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, wenn eine derart extreme Gefahrenlage vorläge, dass der Ausländer bei einer Rückkehr gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen überantwortet wäre, vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, NVwZ 1996, S. 199.