VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 26.03.2007 - 7 UZ 3020/06.A - asyl.net: M10084
https://www.asyl.net/rsdb/M10084
Leitsatz:

1. Das Darlegungserfordernis des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG setzt, wenn im angegriffenen Urteil über mehrere Streitgegenstände entschieden worden ist, grundsätzlich voraus, dass der Zulassungsantragsteller deutlich macht, auf welchen Streitgegenstand sich die von ihm geltend gemachten Zulassungsgründe jeweils beziehen, und er darüber hinaus aufzeigt, welchem Zulassungsgrund sein antragstützendes Vorbringen jeweils zuzuordnen ist.

2. Die Ablehnung eines Beweisantrags verletzt das rechtliche Gehör eines Verfahrensbeteiligten (erst dann), wenn dieser einen nach dem jeweiligen Verfahrensrecht erheblichen Beweisantrag gestellt und das Gericht diesen Beweisantrag in unvertretbarer Weise abgelehnt hat, die Ablehnung also im Prozessrecht keine Stütze findet.

3. Für den Ausforschungsbeweisantrag ist kennzeichnend, dass unter formellem Beweisantritt Behauptungen aufgestellt werden, deren Wahrheitsgehalt nicht eine gewisse (Anfangs-)Wahrscheinlichkeit für sich hat.

4. Nicht jede von einem Kläger vorgelegte ärztliche Bescheinigung einer posttraumatischen Belastungsstörung begründet zugleich einen greifbaren Anhaltspunkt für das Vorliegen eines derartigen Krankheitsbildes mit der Folge, dass - bei rechtlicher Erheblichkeit dieser Tatsache und im Übrigen ordnungsgemäßer Antragstellung - einem entsprechenden Beweisantrag vom Gericht stets entsprochen werden müsste.

5. Das Verwaltungsgericht ist berechtigt und verpflichtet, eine vom Kläger beigebrachte ärztliche Bescheinigung einer posttraumatischen Belastungsstörung darauf zu überprüfen, ob sich aus ihr greifbare Anhaltspunkte für dieses nicht ohne weiteres zu diagnostizierende Krankheitsbild ergeben oder ob die dort getroffene Feststellung kaum nachvollziehbar und nicht im Ansatz tragfähig erscheint.

6. Das Gehörsrecht gewährt einem Prozessbeteiligten eine verfahrensrechtliche Teilhabe am Gang der gerichtlichen Entscheidungsfindung, bietet ihm hingegen grundsätzlich keinen Schutz vor einer verfehlten Überzeugungsbildung des Gerichts.

7. Die Darlegung der Klärungsbedürftigkeit einer Tatsachenfrage setzt mindestens voraus, dass der Zulassungsantragsteller für seine Tatsacheneinschätzung dem Berufungsgericht greifbare Anhaltspunkte in Auskünften, Presseberichten oder sonstigen Erkenntnisquellen unterbreitet.

 

Schlagwörter: Verfahrensrecht, Berufungszulassungsantrag, Verfahrensmangel, rechtliches Gehör, Beweisantrag, Ausforschungsbeweisantrag, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, fachärztliche Stellungnahme, Attest, Sachverständigengutachten, Darlegungserfordernis, Streitgegenstand, grundsätzliche Bedeutung
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 4 S. 4; AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 3; VwGO § 138 Nr. 3; GG Art. 103 Abs. 1; AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1
Auszüge:

1. Das Darlegungserfordernis des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG setzt, wenn im angegriffenen Urteil über mehrere Streitgegenstände entschieden worden ist, grundsätzlich voraus, dass der Zulassungsantragsteller deutlich macht, auf welchen Streitgegenstand sich die von ihm geltend gemachten Zulassungsgründe jeweils beziehen, und er darüber hinaus aufzeigt, welchem Zulassungsgrund sein antragstützendes Vorbringen jeweils zuzuordnen ist.

2. Die Ablehnung eines Beweisantrags verletzt das rechtliche Gehör eines Verfahrensbeteiligten (erst dann), wenn dieser einen nach dem jeweiligen Verfahrensrecht erheblichen Beweisantrag gestellt und das Gericht diesen Beweisantrag in unvertretbarer Weise abgelehnt hat, die Ablehnung also im Prozessrecht keine Stütze findet.

3. Für den Ausforschungsbeweisantrag ist kennzeichnend, dass unter formellem Beweisantritt Behauptungen aufgestellt werden, deren Wahrheitsgehalt nicht eine gewisse (Anfangs-)Wahrscheinlichkeit für sich hat.

4. Nicht jede von einem Kläger vorgelegte ärztliche Bescheinigung einer posttraumatischen Belastungsstörung begründet zugleich einen greifbaren Anhaltspunkt für das Vorliegen eines derartigen Krankheitsbildes mit der Folge, dass - bei rechtlicher Erheblichkeit dieser Tatsache und im Übrigen ordnungsgemäßer Antragstellung - einem entsprechenden Beweisantrag vom Gericht stets entsprochen werden müsste.

5. Das Verwaltungsgericht ist berechtigt und verpflichtet, eine vom Kläger beigebrachte ärztliche Bescheinigung einer posttraumatischen Belastungsstörung darauf zu überprüfen, ob sich aus ihr greifbare Anhaltspunkte für dieses nicht ohne weiteres zu diagnostizierende Krankheitsbild ergeben oder ob die dort getroffene Feststellung kaum nachvollziehbar und nicht im Ansatz tragfähig erscheint.

6. Das Gehörsrecht gewährt einem Prozessbeteiligten eine verfahrensrechtliche Teilhabe am Gang der gerichtlichen Entscheidungsfindung, bietet ihm hingegen grundsätzlich keinen Schutz vor einer verfehlten Überzeugungsbildung des Gerichts.

7. Die Darlegung der Klärungsbedürftigkeit einer Tatsachenfrage setzt mindestens voraus, dass der Zulassungsantragsteller für seine Tatsacheneinschätzung dem Berufungsgericht greifbare Anhaltspunkte in Auskünften, Presseberichten oder sonstigen Erkenntnisquellen unterbreitet.

(Amtliche Leitsätze)

 

3. Die von den Klägerinnen erhobenen Rügen und aufgeworfenen Fragen rechtfertigen die Zulassung der Berufung nicht.

a. Soweit die Klägerinnen die Ablehnung der in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisanträge als Gehörsverletzungen beanstanden, verfehlen sie bereits das Begründungserfordernis des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylVfG. Nach dieser Vorschrift sind in dem Antrag die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.

Die gebotene Aufbereitung und Strukturierung des Zulassungsvorbringens setzt insbesondere grundsätzlich voraus, dass der Rechtsmittelführer bei mehreren Streitgegenständen, über die - wie hier - im Urteil entschieden worden ist, deutlich macht, auf welchen Streitgegenstand sich die von ihm geltend gemachten Zulassungsgründe jeweils beziehen, und er darüber hinaus sein antragsstützendes Vorbringen jeweils einem bestimmt bezeichneten Zulassungsgrund zuordnet. Denn nach dem Berufungszulassungsrecht ist es Aufgabe des Rechtsmittelführers, aufzuzeigen, in welchem Umfang und aus welchen tatsächlichen oder rechtlichen Erwägungen heraus eine gerichtliche Entscheidung zur Überprüfung des Berufungsgerichts gestellt wird (st. Rspr. des Senats, vgl. etwa Beschlüsse vom 5. Dezember 2005 - 7 UZ 871/05.A -, vom 9. Januar 2006 - 7 UZ 2176/05.A -, vom 11. Januar 2006 - 7 UZ 1895/05.A - sowie vom 18. Januar 2006 - 7 UZ 3016/05.A -, vgl. auch Hess. VGH, Beschlüsse vom 2. Juni 2004 - 9 UZ 1097/04 -, vom 24. November 2004 - 9 UZ 1674/03 - und vom 13. Juni 2005 - 9 UZ 1682/04 -; GK-AsylVfG, Stand: Oktober 2006, § 78 Rdnr. 577).

Eine Zuordnung des insofern geltend gemachten Zulassungsgrundes nach Art. 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO zu den unterschiedlichen Streitgegenständen, über die das Verwaltungsgericht im angegriffenen Urteil entschieden hat - Asyl- und Flüchtlingsanerkennung auf Folgeantrag, Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG auf Folgeschutzgesuch hin - fehlt in der Antragsbebegründung vom 12. Dezember 2006.

b. Unabhängig hiervon liegt in der erfolgten Ablehnung der in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisanträge der Klägerinnen keine Versagung rechtlichen Gehörs.

bb. Die Ablehnung des auf Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung der Klägerin zu 2. gerichteten Beweisantrags weist gleichfalls keine gehörsrechtlich beachtlichen Defizite auf.

Es ist anerkannt, dass ein auf Ausforschung gerichteter Beweisantrag keine Beweiserhebungspflicht des Gerichts auslöst. Beim Ausforschungsbeweisantrag fehlt es aufgrund eines Mangels des Beweisthemas an einem ordnungsgemäß gestellten Beweisgesuch. Der Mangel liegt darin, dass Fakten oder argumentativ erschlossene tatsächliche Zusammenhänge fehlen, aufgrund derer für die aufgestellte Beweisbehauptung eine bestimmte Plausibilität spricht. Kennzeichnend für den Ausforschungsbeweisantrag ist mithin, dass unter formellem Beweisantritt Behauptungen aufgestellt werden, deren Wahrheitsgehalt nicht eine gewisse (Anfangs-)Wahrscheinlichkeit für sich hat (vgl. zu Vorstehendem: BVerwG, Beschluss vom 28. März 2006 - BVerwG 1 B 91.05 - NVwZ 2007, 346; Hess. VGH, Beschluss vom 17. Februar 2005 - 9 UZ 1646/01.A -; GK-AsylVfG, Stand: Oktober 2006, § 78 Rdnr. 366; Dahm, ZAR 2002, 348 [350 f.]). Ob (hinreichende) tatsächliche Anhaltspunkte für eine (Anfangs-)Wahrscheinlichkeit einer unter Beweis gestellten Behauptung vorliegen und damit ein ordnungsgemäßer - nicht auf Ausforschung gerichteter - Beweisantrag gestellt ist, hängt dabei auch vom zu beweisenden Sachverhalt ab. Je komplexer und/oder ungewöhnlicher dieser ist, desto mehr bedarf es vom Antragsteller darzulegender Indiztatsachen für eine gewisse Wahrscheinlichkeit der dem Gericht mit dem Beweisgesuch unterbreiteten Tatsachenbehauptung (vgl. Hess. VGH, Beschluss vom 17. Februar 2005, a. a. O.; Jacob, VBlBW 1997, 41 [43 f.]).

Das Verwaltungsgericht hat sich bei seiner Zurückweisung des auf Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung der Klägerin zu 2. gerichteten Beweisgesuchs folglich auf einen anerkannten Ablehnungsgrund gestützt. Es hat auch nicht dadurch das Gehörsrecht verletzt, dass es in unvertretbarer Weise das Vorliegen der Voraussetzungen eines auf Ausforschung gerichteten Beweisantrags bejaht hat.

Die posttraumatische Belastungsstörung, auf die sich die seit Februar 1999 in Deutschland lebende Klägerin zu 2. nach erfolgter Terminsladung erstmals mit Schriftsatz vom 9. Oktober 2006 in dem seit dem 22. Dezember 2005 rechtshängigen verwaltungsgerichtlichen Verfahren über ihren dritten Folgeantrag bzw. ihr drittes Folgeschutzgesuch unter Vorlage eines ärztlichen Attests vom 20. September 2006 berufen hat, stellt ein komplexes psychisches Krankheitsbild dar. Die beiden international üblichen und anerkannten Diagnosesysteme der Zehnten Fassung der Internationalen Klassifikation der Erkrankungen durch die Welt-Gesundheits-Organisation (International Classification of Deseases - ICD 10) bzw. der Vierten Auflage des diagnostischen und statistischen Handbuchs der Amerikanischen-Psychiatrischen Gesellschaft (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders - DSM IV) verhalten sich zur posttraumatischen Belastungsstörung wie folgt: ...

Ärztliche Stellungnahmen, mittels derer sich ein Gericht im Klageverfahren Überzeugungsgewissheit vom Vorliegen dieses komplexen Krankheitsbildes verschaffen will, bei dem weniger äußerlich feststellbare objektive Befundtatsachen im Mittelpunkt stehen als vielmehr ein inneres Erleben, müssen hiernach spezifischen formellen und inhaltlichen Anforderungen gerecht werden (vgl. zu diesen Anforderungen: Hess. VGH, Beschlüsse vom 19. April 2004 - 9 TG 639/04 - und vom 30. Mai 2005 - 9 TG 1274/05 -; VG Düsseldorf, Urteil vom 24. Mai 2006 - 5 K 1970/06.A - juris).

Parteivorbringen des Klägers - zu dem auch von diesem eingereichte ärztliche Bescheinigungen zählen - als Grundlage eines ordnungsgemäßen, auf Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung abzielenden Beweisantrags muss den vorbezeichneten fachlichen und inhaltlichen Anforderungen hingegen nicht genügen. Denn durch die begehrte Beweiserhebung sollen die Beweise erst erlangt werden, aus denen das Gericht seine Überzeugungsgewissheit - ggf. unter Berücksichtigung spezifischer formeller und inhaltlicher Anforderungen an ärztliche Stellungnahmen zu posttraumatischen Belastungsstörungen - schöpft (vgl. BVerwG, Beschluss vom 28. März 2006 - BVerwG 1 B 91.05 - a.a.O.; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24. Januar 2005 - 8 A 159/05.A - NVwZ-RR 2005, 507).

Umgekehrt begründet aber auch nicht jede von einem Kläger vorgelegte ärztliche Bescheinigung einer posttraumatischen Belastungsstörung sogleich einen greifbaren Anhaltspunkt für das Vorliegen eines derartigen Krankheitsbildes, mit der Folge, dass - bei rechtlicher Erheblichkeit dieser Tatsache und im Übrigen ordnungsgemäßer Antragstellung - einem entsprechenden Beweisgesuch stets nachgegangen werden müsste. Vielmehr ist das Verwaltungsgericht - unter Berücksichtigung des übrigen Parteivorbringens und sonstiger Umstände - berechtigt und verpflichtet, auch eine vom Kläger beigebrachte ärztliche Bescheinigung einer posttraumatischen Belastungsstörung darauf zu überprüfen, ob sich aus ihr greifbare Anhaltspunkte für dieses nicht ohne weiteres zu diagnostizierende Krankheitsbild ergeben oder ob die dort getroffene Feststellung kaum nachvollziehbar und nicht im Ansatz tragfähig erscheint (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24. Januar 2005, a.a.O.).

Das Verwaltungsgericht hat dem ärztlichen Attest vom 20. September 2006 keine greifbaren Anhaltspunkte für eine posttraumatische Belastungsstörung der Klägerin zu 2. entnehmen können. Hierzu hat das Verwaltungsgericht in den Entscheidungsgründen des angegriffenen Urteils ausgeführt, in dem Attest werde mitgeteilt, die Klägerin zu 2. befinde sich dort - in der ärztlichen Gemeinschaftspraxis - seit September 2001 in sporadischer nervenärztlicher Behandlung. Am 20. September 2006 seien eine mittelgradige depressive Episode und eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert worden. Weswegen sich die Klägerin zu 2. dort seit 2001 in Behandlung befinde, werde nicht mitgeteilt. Ebenso wenig werde erkennbar, ob und bejahendenfalls welche fachärztlichen Behandlungen durchgeführt worden seien. Ferner sei nicht erkennbar, worauf die an diesem Tag gestellte Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung gestützt werde. Erwähnt würden Schlafstörungen, Konzentrationsminderung, Nervosität und Unruhe, außerdem habe die Klägerin zu 2. Angst, bei einer Abschiebung in den Kosovo werde ihr die Tochter weggenommen, daneben werde sie von wiederkehrenden Erinnerungen traumatisierender Ereignisse aus dem Kosovokrieg gequält. Welche Ereignisse hiermit gemeint seien, werde nicht mitgeteilt, ebenso fehle jegliche Erklärung, weshalb es mehr als sieben Jahre nach der Einreise und mehr als fünf Jahre seit der ersten Behandlung gedauert habe, bis die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung habe gestellt werden können. Dass unter diesen Umständen das vorgelegte Attest - so das Verwaltungsgericht - unbrauchbar sei, bedürfe keiner weiteren Begründung.

Die auf diesen Erwägungen gründende Annahme eines Ausforschungsbeweisantrags durch das Verwaltungsgericht ist nicht unvertretbar und weist damit keine gehörsrechtlichen Defizite auf, zumal die Feststellung einer posttraumatischen Belastungsstörung binnen eines Tages (20. September 2006) auch und gerade nach mehrjähriger (lediglich) sporadischer nervenärztlicher Behandlung ausgeschlossen sein dürfte.