VG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 22.03.2007 - 15 A 1150/03 - asyl.net: M10100
https://www.asyl.net/rsdb/M10100
Leitsatz:

Der Widerruf der Anerkennung eines türkischen Yeziden als Asylberechtigter ist rechtswidrig, da derzeit Verfolgungsmaßnahmen nicht auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können.

 

Schlagwörter: Türkei, Jesiden, Gruppenverfolgung, Verfolgungsdichte, Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Verfolgungssicherheit, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgung durch Dritte, mittelbare Verfolgung, Schutzbereitschaft, Reformen, politische Entwicklung, Islamisten, Dorfschützer
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Der Widerruf der Anerkennung eines türkischen Yeziden als Asylberechtigter ist rechtswidrig, da derzeit Verfolgungsmaßnahmen nicht auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können.

(Amtlicher Leitsatz)

 

1. Die Voraussetzungen für einen Widerruf der Anerkennung als Asylberechtigter nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG liegen nicht vor.

b. Das Gericht vermag nicht festzustellen, dass sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Klägers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Anerkennung maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen erneut Verfolgung droht.

Zur Zeit der Asylanerkennung des Kläger wurde von der Rechtsprechung ohne Ausnahme vertreten, dass Yeziden in der Türkei jedenfalls in ihren angestammten Siedlungsgebieten einer mittelbar staatlichen Gruppenverfolgung ausgesetzt seien, ohne dass ihnen eine inländische Fluchtalternative offen stehe (OVG Hamburg, Urteil vom 13.4.1994, Bf V 3/88, Juris; OVG Münster, Urteil vom 22.1.2001, 8 A 792/96.A, und Urteil vom 24.11.2000, 8 A 4/99.A, Juris; OVG Lüneburg, Urteil vom 29.5.1997, 11 L 6286/91, Juris, und - grundlegend - Urteil vom 28.1.1993, 11 L 513/89, Juris; VGH Mannheim, Urteil vom 23.04.1992, 12 S 762/90, Juris; OVG Koblenz, Urteil vom 1.4.1992, 13 A 11860/90, Juris; VGH Kassel, Urteil vom 18.05.1992, 12 UE 3905/88, Juris; VGH München, Urteil vom 11.10.1993, 11 B 90.31837; OVG Saarlouis, Urteil vom 10.2.1993, 3 R 57/92, Juris; OVG Bremen, Urteil vom 19.10.1993, 2 BA 35/91, Juris). Voraussetzung war jeweils die Abstammung von yezidischen Eltern, aber auch die fortdauernde Glaubensgebundenheit des jeweils um Asyl nachsuchenden Yeziden.

Dass der Kläger möglicherweise zu Unrecht als asylberechtigt anerkannt worden ist, weil es sich bei ihm nicht um einen nicht hinreichend glaubensgebundenen Yeziden handelt, stünde dem Widerruf seiner Asylanerkennung allerdings nicht entgegen. Denn § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG verpflichtet unter den dort genannten Voraussetzungen auch zum Widerruf einer ursprünglich rechtswidrigen Anerkennung (vgl. BVerwG, Urteil vom 25.8.2004, NVwZ 2005, 89 f., Juris Rn. 10; Urteil vom 19.9.2000, BVerwGE 112, 80 ff., Juris Rn. 13 ff.), da andernfalls zu Unrecht als asylberechtigt Anerkannte gegenüber den zu Recht Anerkannten bevorzugt würden.

Die für glaubensgebundene Yeziden in der Türkei maßgeblichen Verhältnisse haben sich seit der Anerkennung des Klägers nicht erheblich und dauerhaft so verändert, dass asylrelevante Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit auszuschließen sind.

Auch wenn es mittlerweile eine Reihe von Entscheidungen gibt, die türkischen Yeziden die Asylberechtigung verweigern (OVG Münster, Urteil vom 14.2.2006, 15 A 2119/02.A, Juris, vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 5.1.2007, 1 B 59/06, Juris; OVG Schleswig, Urteil vom 29.9.2005, 1 LB 38/04 u.a., Juris, allerdings wegen mangelhafter Sachaufklärung aufgehoben durch BVerwG, Beschluss vom 24.5.2006, 1 B 129/05, Juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 6.6.2006, 17 K 3041/04.A, Juris; VG Münster, Urteil vom 20.7.2006, 3 K 1748/04.A, Juris, und Urteil vom 23.11.2006, 3 K 2025/04.A, Juris; VG Hannover, Urteil vom 30.4. 2003, 1 A 389/02, und vom 17.11.2003, 5 A 494/03; VG Osnabrück, Urteil vom 17.11.2003, 5 A 494/03), kann hieraus nicht auf eine Verfolgungssicherheit geschlossen werden, wie sie für den Widerruf einer bereits erfolgten Asylanerkennung zu verlangen ist. Jene Entscheidungen betreffen allesamt junge, selbst nicht vorverfolgte Asylsuchende, die noch um ihre erste Anerkennung streiten und denen in Bezug auf drohende Verfolgung somit nicht der herabgestufte Wahrscheinlichkeitsmaßstab zugute kam. Dementsprechend ist in Bezug auf diese Personen festgestellt worden, dass eine Verfolgung aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Yeziden "nicht beachtlich wahrscheinlich" sei. Im Widerrufsverfahren ist indes maßgeblich, dass derartige Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden können, und zwar auf absehbare Zeit. Ein solches ist jedoch bisher in keinem veröffentlichten Urteil festgestellt worden. Vielmehr wurden die Widerrufsbescheide stets aufgehoben (so VG Neustadt, Urteil vom 1.6.2006, 4 K 493/06.NW, Juris; VG Freiburg, Urteil vom 25.7.2006, A 6 K 11023/05, Juris; entsprechend auch VG Hamburg, Urteil vom 19.10.2005, 7 A 571/05, unveröffentlicht).

Zwar haben sich die Verhältnisse in der Türkei seit der Anerkennung des Klägers unzweifelhaft verändert. Insbesondere im Zuge der Bemühungen, der Europäischen Union beizutreten, hat die Türkei erhebliche Anstrengungen unternommen, die rechtlichen Voraussetzungen für einen demokratischen Rechtsstaat zu schaffen (vgl. dazu insbesondere die Lageberichte des Auswärtigen Amtes, zuletzt vom 11.1.2007; vgl. auch den sog. Fortschrittsbericht der EU-Kommission vom 8.11.2006). Gleichwohl sind immer noch rechtliche Defizite, insbesondere aber auch Vollzugsdefizite festzustellen. Minderheitenschutz, Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit sind nur eingeschränkt gewährleistet (siehe z.B. vorstehende Quellen), und auch wenn es diesbezügliche Rechtsvorschriften gibt, werden diese von den Inhabern staatlicher Macht nicht immer konsequent und zuverlässig angewandt, wie zum Beispiel die immer noch nicht ausgerottete Folter zeigt (vgl. dazu im Einzelnen zuletzt VG Hamburg, Urteil vom 22.1.2007, 15 A 1731/04 ).

Im Hinblick auf die Situation der türkischen Yeziden kann das Gericht jedoch nicht davon ausgehen, dass diese politischen Veränderungen auch bewirkt haben, dass die hier anerkennungsrelevanten Gruppenverfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen sind.

Das Gericht geht dabei davon aus, dass in der Türkei gegenwärtig ca. 500 Yeziden leben. Wenn demgegenüber das Auswärtige Amt in seinen Stellungnahmen, zuletzt im Lageberichte vom 11. Januar 2007 (S. 26), aber auch bereits im Lagebericht vom 19. Mai 2004 (S.26), fortlaufend eine Zahl von 2000 Yeziden angibt, fehlt es hierfür an einer nachvollziehbaren, überprüfbaren Quelle.

Die Auskunftslage hinsichtlich der aktuellen Verfolgungssituation der türkischen Yeziden ist uneinheitlich:

In seinem letzten Lagebericht vom 11. Januar 2007 führt das Auswärtige Amt an, dass nach Angaben von Vertretern der Yeziden seit mehreren Jahren keine religiös motivierten Übergriffe von Muslimen mehr bekannt geworden seien. Es bestünden lediglich Probleme bei der Wiedereintragung von Eigentumsrechte an Grundstücken, zumal in Teilen dieser Gebiete das Grundbuchwesen erst im Aufbau begriffen sei.

Zwar ist eine Verbesserung der Lebenssituation der Yeziden in den letzten Jahren wahrscheinlich, wie sich überhaupt die rechtliche und tatsächliche Situation im letzten Jahrzehnt im Südosten der Türkei gebessert hat. Auch soll nicht bezweifelt werden, dass einzelne Yeziden gegen muslimischen Nachbarn im Gerichtsverfahren obsiegt sowie Grundstücke und Häuser zurückbekommen haben, Neubauten errichten konnten und sich auf Befragen positiv zu ihrer heutigen Lebenssituation geäußert haben.

Gleichwohl hat der Gutachter ... in seinem Gutachten vom 17. April 2006 (Blatt 273 ff. d.A.) eine so erhebliche Liste an aktuellen asylerhebliche Verfolgungshandlungen zusammengestellt, dass die hier geforderte hinreichende Sicherheit von Rückkehrern nicht als gewährleistet erscheint (so auch mit detaillierter Begründung VG Neustadt, Urteil vom 1.6.2006, 4 K 493/06.NW, Juris Rn. 27 ff.).

Angesichts der geringen Zahl noch in der Türkei lebenden Yeziden weist die Vielzahl der benannten Vorkommnisse (... zählt 41 z.T. mehr als eine Person betreffende Vorkommnisse in einer Zeitspanne von maximal 3 Jahren auf) selbst unter der Prämisse, dass einige hiervon letztlich keinen asylrelevanten Hintergrund haben werden und zudem auch Yeziden betroffen waren, die sich nur besuchsweise in der Türkei aufgehalten haben und deshalb beim dortigen Bestand nicht mitgezählt wurden, eine Verfolgungsdichte auf, die der zu verlangenden hinreichenden Sicherheit entgegensteht.

Auch können die vorbezeichneten Verfolgungshandlungen nicht als neuartige, nunmehr rein private Verfolgung betrachtet werden, die dem türkischen Staat nicht zugerechnet werden kann. Denn zum einen zeigt die so festgestellte Verfolgungsdichte, dass gerade die yezidische Bevölkerung offenbar einen besonders geringen Schutz durch den türkischen Staat erfährt. Wenngleich auch Gerichte zunehmend zu Gunsten von Yeziden entscheiden, so ist dies für die vor Ort tätige Exekutive (Sicherheitskräfte, Bürokratie) nicht in gleicher Weise festzustellen. Zum anderen spielt gerade der Staat, vertreten nicht nur durch ihm direkt zuzuordnende Staatsbedienstete, sondern auch durch Dorfschützerclans, deren Aktivitäten mittelbar dem Staat zuzurechnen sind, auch eine aktive Rolle bei der Drangsalierung der Yeziden, wie eine Reihe der vom Gutachter aufgelisteten Beispielsfälle zeigt.

Es ist auch nicht zu erwarten, dass sich die Situation in absehbarer Zeit weiter so verbessert und stabilisiert, dass die zu verlangende Sicherheit nunmehr gegeben ist. Zum einen steht dem entgegen, dass die Reformbemühungen in der Türkei ohnehin in letzter Zeit ziemlich zum Stillstand gekommen sind, schon weil es Schwierigkeiten im Zuge des Beitritts zur Europäischen Union gegeben hat. Ferner ist ein deutliches Erstarken des türkischen Nationalismus wie auch des Islamismus im gesamten Nahen Osten festzustellen, der auch die Türkei nicht außen vor gelassen hat. Da die Verfolgung der Yeziden wesentlich religiös begründet wird, ist hier sogar eine zunehmende Verfolgungsgefahr zu befürchten, mehr noch als in Bereichen originär politischer Verfolgung wie von Linken oder kurdischen Separatisten.