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Zitieren als:
, Bescheid vom 08.05.2007 - 5226393-262 - asyl.net: M10111
https://www.asyl.net/rsdb/M10111
Leitsatz:
Schlagwörter: Kamerun, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, Behinderte, Kinder, Kleinkinder, Balkenagenesie, Makrocephalus, Pachygyrie, HIV/Aids, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Familienangehörige, Situation bei Rückkehr
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Dem Antrag wird insofern entsprochen, als festgestellt wird, dass die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Kamerun vorliegen.

Der maßgebliche Anknüpfungspunkt bei der Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 7 AufenthG ist die diagnostizierte zystische Fehlbildung des Gehirns, mit Balkenagenesie und Makrocephalus, lokalisierte Pachygyrie sowie die zystischen Veränderungen der rechten Niere und des Pankreas.

Eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes ist bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Zuständen und/oder existenzbedrohenden Zuständen anzunehmen (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20.09.2006, Az.: 13 A 1740/05.A). Vorliegend ist dieser Sachverhalt gegeben.

Balkenagenesie (Corpus-callosum-Agenesie) ist eine angeborene Fehlbildung des Gehirns, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Verbindungen zwischen der rechten und der linken Hirnhälfte, das Corpus callosum, fehlt oder stark unterentwickelt ist.

Pachygyrie (Vergröberung der Oberflächenstruktur des Gehirns) führt zu schweren Behinderungen. Folge dieser Störung ist eine glatte (Lissos) Ausprägung der Oberfläche der Großhirnrinde (Kortex). Die betroffenen Kinder bleiben fast alle auf der Entwicklungsstufe eines Säuglings stehen. Ihre Lebenserwartung ist trotz intensiver Betreuung deutlich reduziert. Sie bleiben lebenslang schwere Pflegefälle mit starken intellektuellen und körperlichen Defiziten.

Für die Krankheitsbilder Pachygyrie (klassische Lissenzephalie - Lissenzephalie ist der Oberbegriff für eine Reihe von Entwicklungsstörungen des Gehirns, die zu schweren Behinderungen der Neugeborenen führen) wird eine Lebenserwartung von maximal 2 Jahren eingeschätzt. Eine vollständige Heilung und eine normale Entwicklung des Kindes sind kaum zu erwarten. Kinder mit diesem Typ der Lissenzephalie leiden meist unter einer globalen Retardierung mit schweren kognitiven Störungen und einer ausgeprägten Muskelhypothonie, die sich zu einer spastischen Tetraparese entwickeln kann, einer früh einsetzenden schwer behandelbaren Epilepsie sowie einer ausgeprägten Ernährungsstörung als Folge von Fütterungsproblemen (s. "Klinik, Genetik und Pathogenese der Lissenzephalien" von Deborah Morris-Rosendahl, Gerhard Wolff im Deutschen Ärzteblatt, Heft 19 vom 09. Mai 2003).

Laut ärztlicher Aussage vom 27.03.2007 ist eine engmaschige Kontrolle des Kopfwachstums und der möglichen Veränderungen der Hirnfehlbildung hinsichtlich der Drucksymptomatik notwendig, um über chirurgische Maßnahmen zu entscheiden. Von der Unterzeichnerin wird unter Beachtung aller eingereichten ärztlichen Atteste es als überlebensnotwendig für das Kind angesehen, dass eine ständige in kurzen Abständen durchzuführende Kontrolle auf hohem medizin-technischen Niveau gewährleistet ist.

Nach den dem Bundesamt vorliegenden Aussagen gibt es in Kamerun für Kinder lokale staatliche Krankenhäuser und eine begrenzte Anzahl von Ärzten in den Schulen. In den größeren Städten gibt es über 20 Krankenhäuser. So gibt es in Douala, der Herkunftsstadt der Mutter des Antragstellers, z. B. die Krankenhäuser: Hospital General de Douala, Hospital Laquintinie de Douala. Fachärzte sind insbesondere in Douala und Yaounde präsent. In den Kliniken auf dem Land ist grundsätzlich ein 24 Stunden-Dienst eingerichtet, so dass jederzeit Hilfe gewährt werden kann. In den größeren Städten gibt es ausreichend Apotheken, die im Regelfall alle wichtigen Medikamente aus französischer Produktion führen. Die medizinische Versorgung wird für Douala und Yaounde besser eingeschätzt, jedoch entspricht sie nicht mitteleuropäischem Standard. Insbesondere kommt es in staatlichen Krankenhäusern immer wieder zu Engpässen in der Versorgung mit Medikamenten, Verbands- und anderem medizinischen Verbrauchsmaterial (vgl. Informationszentrum Asyl und Migration des Bundesamtes, Kamerun, Gesundheitswesen, März 2006).

Nach anderslautenden Informationen wird die medizinische Versorgung in Kamerun weit schlechter bewertet. Generell wird die medizinische Versorgung als ungenügend eingeschätzt. Große Unterschiede gibt es zwischen städtischen und ländlichen Gebieten. Insbesondere die Notfallversorgung und die Behandlungsmöglichkeiten in Krankenhäusern wird als stark eingeschränkt bewertet, auch in den Städten. Die hygienischen Bedingungen werden als schlecht bewertet und es mangelt an Ärzten und Pflegepersonal. Die medizinischen Einrichtungen des öffentlichen Sektors, der 83 der staatlich erbrachten Dienstleistungen im Gesundheitsbereich abdeckt, wird mit Ausnahme des für kamerunische Verhältnisse auf hohem Standard funktionierenden Universitätsspitals von Douala als schlecht ausgerüstet und nur in ungenügender Zahl vorhanden eingeschätzt. Notfallversorgung, Hospitalisierungsmöglichkeiten und Operationen sind wegen Mangels an Pflegepersonal, Spezialisten, modernen technischen Ausrüstungen und angesichts schlechter hygienischer Bedingungen, veralteter Infrastrukturen und unzureichender Ausbildung selbst in den Städten stark eingeschränkt.

Die Mutter des Antragstellers stammt aus Douala. Selbst wenn man von einem hohen Standard des Universitätshospitals in Douala ausgeht, wird es nur mit langen Wartezeiten der Mutter möglich sein, ihr Kind überhaupt erst einmal als Patient anzumelden. Die ständig durchzuführenden engmaschigen Kontrolluntersuchungen, die einen sehr hohen technischen Standard erfordern, sind aber überlebensnotwendig. Sind solche Kontrollmaßnahmen nicht vorhanden, wird es nicht möglich sein, eine akute behandlungsbedürftige Verschlechterung im Gesundheitszustand des Kleinstkindes überhaupt zu erkennen, geschweige denn rechtzeitig im akuten Notfall. Damit besteht allein schon wegen der Wartezeit um Aufnahme im Universitätshospital akute Lebensgefahr für das schwerst erkrankte Kind.

Abgesehen von dem Standard der medizinischen Einrichtungen und der beschränkten Kapazitäten wird es der Mutter des Kindes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch aus finanziellen Gründen nicht möglich sein, dass das Kind überhaupt als Patient angenommen wird und darüber hinaus in ständiger geforderter ärztlicher Kontrolle überwacht wird.

Denn medizinische Leistungen müssen vor Beginn der Behandlung bar bezahlt werden. Bei fehlender oder unzureichender Bezahlung werden Patienten schlechter oder mitunter überhaupt nicht behandelt. Aber nur sehr wenige privilegierte Menschen verfügen in Kamerun über eine Krankenversicherung. Zu diesem Personenkreis ist die Mutter des Antragstellers nicht zu zählen. Die Mutter ist vielmehr den 85 bis 90 % der Bevölkerung zu zuordnen, die die im Verlauf einer Behandlung bar zu begleichenden Kosten für Medikamente, Labortests und Hospitalisierung auch mit Unterstützungsbeiträgen von internationalen Nichtregierungsorganisationen nicht im Stande sind, aufzubringen. Es ist bekannt, dass in Krankenhäusern häufig den Patienten eine bessere Behandlung zukommt, die den Ärzten und auch dem Pflegepersonal einen zusätzlichen Geldbetrag zukommen lassen. Ein Krankenhausaufenthalt kostet pro Bett und Tag für ein Einzelzimmer je nach Standard des Krankenhauses zwischen 4,60 und 18,30 Euro (3 000 und 12 000 CFA). Ein Mehrbettzimmer kostet weniger als 3 000 CFA pro Tag, wobei die Versorgung mit Mahlzeiten die Familie eines Kranken organisieren muss.

Eine gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG zu berücksichtigende zielstaatsbezogene Gefahr kann sich trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer die benötigte medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen tatsächlich nicht zugänglich ist (BVerwG, Urteil vom 29.10.2002, EZAR 043 Nr. 56 und vom 25.11.1997, BVerwGE 105, 383 m. w. N.).

Dass die Mutter bereits finanzielle Schwierigkeiten vor Antritt der Ausreise aus Kamerun hatte, wurde ihr in deren Asylverfahren geglaubt; auch dass die Familie der Tante es als Belastung empfunden hat, für die Mutter und deren Tochter zu sorgen. Nun würde die Mutter jedoch mit einem schwerstkranken Kleinkind zurückkehren. Wie bereits oben festgestellt, erfordert die Komplexität der Erkrankung des Antragstellers eine ständige Überwachung durch Spezialärzte mit Hilfe einer hohen medizin-technischen Ausrüstung. Demzufolge wird die überlebensnotwendige medizinische Kontrolle immense finanzielle Kosten von der Mutter des Antragstellers abverlangen.

Durch die Familie aber auch die unmittelbare Nachbarschaft wird die Rückkehr der Antragstellerin aus Europa als Versagen bewertet werden. Schon allein deshalb ist beachtlich wahrscheinlich, dass sie aus der Gemeinschaft ausgegrenzt werden wird. Hinzu kommt, dass sie mit einem "kopfkranken" Kind zurückkehren würde. Psychisch auffällige oder kranke Personen laufen in afrikanischen Ländern Gefahr, Opfer von staatlicher sowie gesellschaftlicher Diskriminierung und sozialer Ausgrenzung auch durch die eigene Familie zu werden. In den vergangenen Jahren wurden psychisch Kranke von staatlichen Sicherheitskräften mangels angemessener Behandlung und Unterbringungsmöglichkeiten und zur "Wahrung der öffentlichen Ordnung" eingesperrt (vgl. UK Home Office, Country Report Cameroon, Oktober 2003), Durch die Entwicklungsstörungen des Gehirns und die durch die Erkrankungen bedingten Behinderungen wird das Kind sicherlich als "abnormal" abgewertet und aus der Gesellschaft verstoßen werden. Die Verwandten und die Nachbarschaft werden z.B. aus Aberglauben ihre Familien vor einem Anstecken zu schützen suchen. Was auch für die Mutter des Kindes Ausgrenzung, Verstoß bedeutet.

Erschwerend kommt für die Mutter des Antragstellers noch hinzu, dass sie selbst HIV-infiziert ist.

Es ist deshalb mit Sicherheit festzustellen, dass ihr Verachtung und Ausgrenzung nach Rückkehr nach Kamerun seitens ihrer eigenen Familienmitglieder widerfahren wird.