VG Lüneburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 06.12.2006 - 5 A 34/06 - asyl.net: M10116
https://www.asyl.net/rsdb/M10116
Leitsatz:

Kein Widerruf einer Asylanerkennung eins türkischen Staatsangehörigen bei Verdacht der Mitgliedschaft oder Unterstützung der PKK.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Änderung der Sachlage, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Verfolgungssicherheit, Kurden, PKK, Verdacht der Unterstützung, Mitglieder, Reformen, politische Entwicklung, Folter
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Kein Widerruf einer Asylanerkennung eins türkischen Staatsangehörigen bei Verdacht der Mitgliedschaft oder Unterstützung der PKK.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage ist bereits im Hauptantrag begründet.

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat die in dem Bescheid vom 9. September 1999 ausgesprochene Anerkennung der Kläger als Asylberechtigte und die auf der Grundlage des alten Rechtszustandes zu § 51 Abs. 1 AuslG - die, soweit hier von Interesse, mit dem neuen Rechtszustand des § 60 Abs. 1 AufenthG übereinstimmt - zu Gunsten des Klägers zu 1. getroffene Feststellung zu Unrecht widerrufen.

Entgegen der Ansicht des Bundesamtes haben sich nach Auswertung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel zwischenzeitlich im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylVfG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in der Türkei die tatsächlichen Verhältnisse nicht so erheblich und vor allem auf Dauer verändert, dass an dieser Wertung nicht länger festgehalten werden müsste.

Zwar ist seit dem 30. November 2002 der Ausnahmezustand auch in den beiden letzten Südostprovinzen beendet. Inzwischen ist in der Türkei des Weiteren allgemein - wie vom Bundesamt in den angefochtenen Bescheiden im Einzelnen ausgeführt - ein Reformprozess in Gang gekommen. Es gibt aber nach wie vor bei der Umsetzung dieser Reformen in die Realität erhebliche Defizite. Die Reformen haben noch nicht zu einer nachhaltige Verbesserung der Menschenrechtslage für die von den türkischen Sicherheitskräften in den Blick genommenen Personen geführt. Es kann immer noch nicht davon ausgegangen werden, dass die Türkei heute nur noch mit rechtsstaatlichen Mitteln gegen (frühere) Angehörige und Anhänger der PKK oder solche, die sie dafür hält, vorgeht. Nach wie vor kommt es zu Folter und Misshandlungen durch staatliche Kräfte, ohne dass es dem türkischen Staat bisher gelungen ist, dies wirksam zu unterbinden. Grund hierfür ist, dass sich in der Türkei verschiedene Kräfte gegenüberstehen, die nicht dieselben Interessen verfolgen. Während die türkische Regierung - jedenfalls bisher - mehr oder weniger konsequent einen Reformkurs hin zur Europäischen Union verfolgt, stehen ihr nach wie vor starke Kräfte in Justiz- und Polizeiapparat entgegen, die kein Interesse an der Einhaltung der Reformen haben, weil sie der Annäherung an die Europäische Union ohnehin feindlich gegenüberstehen (so auch VG Berlin, Urt. v. 1.3.2006 - VG 36 X 4.06 -; VG Minden, Urt. v. 28.7.2006 - 8 K 275106.A -; VG Düsseldorf - Urt. v. 28.6.2006 - 20 K 5937/04.A -, jeweils m. w. N.). Insbesondere die innenpolitische Sicherheitslage im Südosten der Türkei hat sich aber wieder verschärft. Wegen der teilweisen Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes durch die PKK und die dadurch ausgelösten Operationen der staatlichen Sicherheitskräfte sind auf beiden Seiten wieder Tote zu beklagen. In jüngster Zeit ist der Reformkurs ausweislich von aktuellen Presseberichten wegen der sog. Zypern-Frage und der im nächsten Jahr anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ohnehin ins Stocken geraten und die Europäische Union sieht die laufenden Beitrittsverhandlungen ernsthaft gefährdet. Es ist daher noch nicht ausgemacht, dass der begonnene legislative Reformprozess, der sich im Wesentlichen auf die bisherigen Bemühungen der Türkei auf Aufnahme in die Europäische Union stützt, in Zukunft konsequent fortgeführt und insbesondere auch umgesetzt wird.

Auch wenn nicht davon ausgegangen werden kann, dass jeder Rückkehrer, der seinerzeit vorverfolgt aus der Türkei ausgereist ist, erneut mit asyl- und abschiebungsschutzrelevanten Repressalien zu rechnen hat, so kann jedoch nicht angenommen werden, der Kläger zu 1. gehöre im Fall seiner Rückkehr in die Türkei zu dem Personenkreis, bei dem eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist. Er ist seinerzeit von den türkischen Sicherheitskräften in seiner Heimatregion drangsaliert worden, weil gerade er wegen bestimmter individueller Aktivitäten oder Merkmale aufgefallen und verstärkt in das Blickfeld der Sicherheitskräfte geraten war. Diese Verdachtsmomente bestanden auch nach seiner Ausreise fort, sodass im Zeitpunkt des Urteils des Verwaltungsgerichts im Mai 1999 von einer fortbestehenden Gefährdungslage ohne inländische Fluchtalternative auszugehen war. Es ist nach dem oben Gesagten nicht ersichtlich, dass im gegenwärtigen Zeitpunkt diese Einschätzung wegen gravierend und nachhaltig geänderter Umstände nicht mehr gilt.