VG Gelsenkirchen

Merkliste
Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 24.04.2007 - 6a K 813/05.A - asyl.net: M10120
https://www.asyl.net/rsdb/M10120
Leitsatz:

§ 60 Abs. 7 AufenthG wegen Niereninsuffizienz; Dialyseplätze sind in Armenien nicht in ausreichender Anzahl vorhanden und nicht kostenfrei.

 

Schlagwörter: Armenien, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, medizinische Versorgung, Niereninsuffizienz, Nierenerkrankung, Diabetes mellitus, Hepatitis C, Anämie, Hyperparathyreoidismus, Hypertonie, Finanzierbarkeit, Korruption, Mitgabe von Medikamenten, Ausländerbehörde
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

§ 60 Abs. 7 AufenthG wegen Niereninsuffizienz; Dialyseplätze sind in Armenien nicht in ausreichender Anzahl vorhanden und nicht kostenfrei.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, § 77 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG - einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten, festzustellen, dass die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG in seiner Person bezogen auf den Staat Armenien vorliegen.

Nach den vorgelegten, aussagekräftigen ärztlichen Bescheinigungen leidet der Kläger seit Juli 2004, als erstmals ein stationärer Krankenhausaufenthalt in Armenien erforderlich wurde, an einem Nierenleiden, das wenigstens seit November 2004 eine regelmäßige Dialyse erforderlich macht. Nach den vorgelegten Bescheinigungen ist davon auszugehen, dass ein Auslassen der alle 72 Stunden erforderlichen Blutwäschen innerhalb kurzer Zeit zum akuten Nierenversagen und damit zum Tod des Klägers führen würde. Neben dieser chronischen Erkrankung, die den Kläger bereits zu einer schwer kranken Person macht (in Deutschland etwa leben heute die Hälfte der Dialysepatienten länger als zehn Jahre, etwa ein Viertel überlebt 20 und mehr Jahre (Quelle: Internetseite www.netdoktor.de/ratschlaege/untersuchungen/haemodialyse.htm)), kommen in seinem Fall besonders gravierende Gesundheitsbeeinträchtigungen hinzu: ein seit wenigstens 1993 bestehender insulinpflichtiger Diabetes mellitus des Typs 1, der bereits zu erheblichen Folgeschäden geführt hat und eine chronische Hepatitis des Typs C. Weitere typische - und als solche eben auch beim Kläger vorhandene - Sekundärerkrankungen der Nierenfehlfunktion sind die medikamentenpflichtige renale Anämie, der renale Hyperparathyreoidismus sowie Hypertonie (Bluthochdruck).

Bei einer Rückkehr nach Armenien hätte der Kläger bereits aus finanziellen Gründen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht im notwendigen Umfang Zugang zu den erforderlichen regelmäßigen Dialysebehandlungen und zu den erforderlichen Begleitmedikamenten (Vgl. VG Ansbach, Urteile vom 24. Januar 2007 - AN 15 K 06.30121 -, vom 18. Dezember 2006 - AN 15 K 05.31541 - und vom 26. Juni 2002 - AN 15 K 02/30433 -, VG Köln, Urteil vom 21. Oktober 2003 - 12 K 4553/99.A -).

Es bestehen bereits Zweifel daran, ob in Armenien noch generell freie Dialyseplätze über das bereits bestehende und ausgenutzte Angebot hinaus zur Verfügung stehen. Zwar gibt es nach den zur Verfügung stehenden Auskünften insgesamt 5 Dialysezentren in Armenien (davon befinden sich vier in Eriwan und ein weiteres in der Stadt Gjumri), in denen insgesamt etwa 130 - 160 Personen regelmäßig dialysiert werden (Bericht der Deutschen Botschaft in Eriwan an das Auswärtige Amt - Referat 508 - vom 21. November 2002 (mit Abschrift an das BAFl - Ref. 207 -) zur medizinischen Situation und Behandlungsmöglichkeiten in Armenien (hier: Dialyse bei chronischem Nierenversagen)).

Diese Dialyseplätze stehen zum Teil auch für Personen mit infektiösen Erkrankungen - etwa Hepatitis C - zur Verfügung. Auch wenn es in verschiedenen Auskünften heißt, im für das vorliegende Verfahren maßgeblichen Zeitpunkt stünden auch heute weitere freie Kapazitäten zur Verfügung, begegnet diese Aussage deshalb Zweifeln, weil eine Gesamtzahl von derzeit in Anspruch genommenen Dialyseplätzen von ca. 160 bezogen auf die Gesamtbevölkerung Armeniens als erhebliches Defizit erscheint.

Bei der Bevölkerung Armeniens von derzeit ca. 3.700.000 Einwohnern und einer durchschnittlichen Prävalenzrate dialysepflichtiger Nierenerkrankungen von 600 Erkrankten auf 1.000.000 Einwohner müssten in Armenien wenigstens 2.220 Dialyseplätze zur Verfügung stehen, um allen Erkrankten die notwendige Behandlung zukommen lassen zu können.

Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Zahl der Nierenerkrankungen pro 1.000.000 Einwohner in Armenien - aus welchen Gründen auch immer - erheblich unter dem Durchschnitt sonstiger Länder liegt, erscheint es angesichts der oben beschriebenen Zahlen zweifelhaft, ob bei den derzeit bestehenden technischen Kapazitäten, tatsächlich existierenden 160 Dialyseplätzen und gleichzeitig aber unzweifelhaft vorhandenen Engpässen darüber hinaus regulär weitere freie Kapazitäten für die Dialysebehandlung zur Verfügung stehen. Dafür spricht auch, dass trotz angeblich noch vorhandener freier Kapazitäten - neben der notwendigen Modernisierung vorhandener technischer Einrichtungen - weitere Dialysegeräte für das armenische Gesundheitssystem angeschafft werden sollen (Bericht der Deutschen Botschaft in Eriwan an das Auswärtige Amt - Referat 508 - vom 21. November 2002 (mit Abschrift an das BAFl - Ref. 207 -) zur medizinischen Situation und Behandlungsmöglichkeiten in Armenien (hier Dialyse bei chronischem Nierenversagen), Seite 4).

Ob es eine derartige generelle Möglichkeit gibt, nach einer Rückkehr nach Armenien einen freien Dialyseplatz zu erhalten, kann letztlich aber dahinstehen und bedarf keiner weiteren Aufklärung, da für den Kläger in seiner konkreten Situation jedenfalls ein freier Dialyseplatz - sofern ein solcher vorhanden ist - nicht in zumutbarer Weise erhältlich wäre.

Das ist hier der Fall, denn es ist davon auszugehen, dass ein kostenfreier Dialyseplatz für den Kläger in Armenien nicht mit der erforderlichen Sicherheit erhältlich ist und er mangels vorhandener Ersparnisse bzw. verwertbaren Vermögens nicht in der Lage wäre, einen kostenpflichtigen Dialyseplatz zu bezahlen.

Zwar werden die Kosten der Dialysebehandlung, die für Armenien mit mindestens 25 US-Dollar pro Sitzung (nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes zu Armenien vom 20. März 2007, Seite 13, belaufen sich die Kosten sogar auf 50 US-Dollar pro Sitzung) angegeben werden, unter bestimmten Voraussetzungen vom armenischen Staat übernommen. Dafür ist erforderlich, dass der Kläger zunächst aufgrund seiner chronischen Nierenkrankheit als Invalide gemäß Anlage zum Beschluss Nr. 146 der Regierung der Republik Armenien vom 20. Februar 2002 anerkannt wird und damit zum Kreis der grundsätzlich sozialbedürftigen und damit zur Inanspruchnahme kostenloser medizinischer Leistungen berechtigten Personen gehört. Aber bereits ein Blick in das weiter zu der genannten Anlage gehörende "Verzeichnis der Krankheiten, für die von dem Staat abgesicherte kostenlose Krankenhausbetreuung und medizinische Hilfeleistung vorgesehen ist", lässt einen durchsetzbaren Anspruch des Klägers auf Zuteilung eines kostenfreien Dialyseplatzes äußerst zweifelhaft erscheinen. Für "Kinder unter dem 15. Lebensjahr" ist unter Ziffer 5. "Niereninsuffizienz" genannt, während für "Personen ab dem 15. Lebensjahr", zu denen der Kläger gehört, unter Ziffer 27. unter der Überschrift "Status (Situationen), die der Reanimation oder eines Noteingriffs bedürfen" lediglich "Akute Niereninsuffizienz" genannt ist. Die Gegenüberstellung der letztgenannten Formulierung mit der allgemeinen Formulierung "Niereninsuffizienz" lässt zumindest befürchten, dass die Behandlung einer chronischen Niereninsuffizienz mit der dann erforderlichen regelmäßigen Dialyse nicht unter den nach geltender Rechtslage vom armenischen Staat gewährten Anspruch fällt.

Selbst wenn man aber von einem auch für den Kläger durchsetzbaren Anspruch auf Zuteilung eines kostenfreien Dialyseplatzes ausgeht, wird es für den Kläger vor dem Hintergrund der bei ihm bestehenden Allgemeinschwäche möglicherweise ausgeschlossen sein, einen solchen in einem langwierigen Verfahren durchzusetzen. Das gilt in besonderer Weise deshalb, weil der Kläger nach den vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen auch an einem insulinpflichtigen Diabetes leidet, der zu einer erheblichen körperlichen Schwächung führt und die verfahrensrechtliche Durchsetzung eines etwaigen Anspruchs faktisch noch weiter erschweren dürfte. Aber selbst wenn dem Kläger aber diese Durchsetzung gelingen sollte, wird ihm die notwendige Behandlung in Form der Durchführung regelmäßiger Dialysen nicht mit der erforderlichen Sicherheit zur Verfügung stehen, weil er zum einen nach den erreichbaren Auskünften zunächst auf einer Warteliste auf den ihm zustehenden Behandlungsplatz warten müsste und zum anderen nicht gesichert ist, dass der Behandlungsplatz auch tatsächlich kostenfrei bzw. nur in einem für den Kläger erschwinglichen Maße kostenpflichtig wäre.

Nach Auskünften des Auswärtigen Amtes sind die vom Staat angebotenen kostenfreien Dialyseplätze in Armenien tatsächlich überbelegt. Es existieren Wartelisten für Patienten, wobei die Wartezeit, die naturgemäß von etlichen Faktoren abhängigen Schwankungen unterliegt, auch nicht als Rahmen benannt wird (Auskunft der Deutschen Botschaft Eriwan an das VG Stuttgart vom 22. August 2005).

Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Kläger von seinen Vermögensverhältnissen her in der Lage sein wird, derartige Handgelder zu zahlen, geschweige denn sich eine offiziell kostenpflichtige Dialysebehandlung auf Vertragsbasis zu leisten. Zunächst wird der Kläger selbst nicht in der Lage sein, in Armenien einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, mit der er die anfallenden Kosten tragen könnte.

Es ist auch nicht damit zu rechnen, dass sich der Kläger oder seine Familie als Asylbewerber ausreichende Rücklagen bilden konnten, um die bei einer Dialysebehandlung in Armenien auf ihn zukommenden Kosten tragen zu können.

Die Gefahr für den Kläger infolge des Abbruchs der notwendigen Dialysebehandlungen für den Fall der Ausreise nach Armenien würde auch nicht durch eine Zusage der zuständigen Ausländerbehörde, für einen bestimmten Zeitraum alle anfallenden Kosten zu übernehmen, ausgeräumt. Denn auch nach Ablauf eines bestimmten Zeitraums wäre nach den derzeit zur Verfügung stehenden Erkenntnissen aus heutiger Sicht nicht erkennbar, dass dann die erforderliche Behandlung für den Kläger mit hinreichender Sicherheit zur Verfügung steht (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 22. Januar 20007 - 18 E 274/06 -, InfAuslR 2007, S. 174 - 176; VG Stuttgart, Urteil vom 15. November 2006 - A 7. K 295/06 -, Asylmagazin 2007, S. 38),

Hinzu kommt, dass der Kläger für ihn erforderliche Begleitmedikamente in Armenien nicht mit der notwendigen Sicherheit erhalten kann, was bereits für sich genommen individuell in der Person des Klägers zu einer erheblichen Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 AufenthG führen dürfte.