OLG Karlsruhe

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Zitieren als:
OLG Karlsruhe, Beschluss vom 13.03.2007 - 1 AK 28/06 - asyl.net: M10133
https://www.asyl.net/rsdb/M10133
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Auslieferung, Unionsbürger, Europäischer Haftbefehl, Vorabentscheidung, Bewilligungshindernis, Ermessen, gewöhnlicher Aufenthalt, Rücküberstellung, Straftat, Strafurteil, Rahmenbeschluss, Schutz von Ehe und Familie, Aufenthaltsdauer
Normen: IRG § 79 Abs. 2; IRG § 79 Abs. 1; IRG § 83b Abs. 2; FreizügG/EU § 6 Abs. 2; GG Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

Nach Inkrafttreten des Europäischen Haftbefehlsgesetzes vom 20.07.2006 (BGBl. 2006 I, 1721) am 2.8.2006 richtet sich der Auslieferungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nach dem neu eingeführten Achten Teil des IRG, wobei die übrigen Bestimmungen des IRG Anwendung finden, soweit dieser Teil keine abschließende Regelung enthält (78 IRG).

III. Die vom Senat nach § 79 Abs. 2 Satz 3 IRG vor der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung zu überprüfende Entschließung der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe vom 18.8.2006, keine Bewilligungshindernisse geltend machen zu wollen, ist rechtsfehlerhaft getroffen.

Durch diese Vorschrift wird dem Postulat des Bundesverfassungsgerichts im Urteil vom 18.7.2005 (BVerfGE 113, 273 = NJW 2005, 2289) genüge getan, nach welchem jedenfalls für den Bereich des Europäischen Haftbefehls auch die Entscheidung der Bewilligungsbehörde einer gerichtlichen Kontrolle unterliegt (BT-Drucks. 16/1024 S. 11, 12). Dabei ist zu beachten, dass nach § 79 Abs. 1 IRG grundsätzlich eine Pflicht zur Bewilligung zulässiger Auslieferungsersuchen besteht und der Bewilligungsbehörde bei Vorliegen von Bewilligungshindernissen ein weites und gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbares Ermessen eingeräumt ist. Erforderlich ist hierfür, dass die nach § 79 Abs. 2 Satz 2 IRG zu begründende Vorabentscheidung dem Senat die gebotene Überprüfung ermöglicht, ob die Bewilligungsbehörde die tatbestandlichen Vorrausetzungen des § 83b IRG zutreffend beurteilt hat und sich bei Vorliegen von Bewilligungshindernissen des ihr eingeräumten Ermessens unter Berücksichtigung aller in Betracht kommender Umstände des Einzelfalles bewusst war (Senat NJW 2007, 617 f. = StV 2007, 159 f.; vgl. auch KG NJW 2006, 3507 = StraFo 2006, 418; BT-Drucks. 16/1024 S. 11 ff, 13). Eine solche Überprüfung ist vorliegend nicht vollumfänglich möglich.

Zutreffend geht die Bewilligungsbehörde allerdings zunächst davon aus, dass der Verfolgte, der erstmals im Jahr 2001 in die Bundesrepublik Deutschland einreiste und nach zwischenzeitlichem Aufenthalt in anderen europäischen Ländern von Anfang 2005 bis zu seiner Inhaftierung am 2.11.2005 bei seiner geschiedenen Ehefrau und dem gemeinsamen Sohn in Mannheim lebte, seinen gewöhnlichen Aufenthalt i.S.d. § 83b Abs. 2 IRG in der Bundesrepublik Deutschland hat, weil dieser ersichtlich auf Dauer angelegt ist (vgl. Renner, AuslR, 8. Aufl. 2005, § 28 AufenthG Rn. 6).

2. Die sich der Feststellung des Vorliegens eines Bewilligungshindernisses nach § 83b Abs. 2 IRG anschließenden Darlegungen im Bescheid vom 18.8.2006 genügen jedoch nicht den an eine ordnungsgemäße Ermessenabwägung zu stellenden Anforderungen, weil in diese teilweise unzulässige Erwägungen eingestellt wurden. Auch werden wesentliche Gesichtspunkte nicht ausdrücklich bedacht und in dem Bescheid aufgeführten und erkannten Gesichtspunkte nicht abwägend gegenübergestellt.

a. Dabei ist der Ausgangspunkt der Erwägung der Generalstaatsanwaltschaft, nach welcher eine Bewilligung auch mit der Einschränkung erfolgen kann, dass der ersuchende Mitgliedstaat nach Verhängung einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe oder sonstigen Sanktion anbieten wird, den Verfolgten auf seinen Wunsch zur Vollstreckung der Strafe zurück in der Bundesrepublik Deutschland zu überstellen, durchaus zutreffend. Nach § 83b Abs. 2a IRG kann nämlich die Bewilligung abgelehnt werden, wenn die Auslieferung eines Deutschen nach § 80 Abs. 1 und 2 IRG nicht zulässig wäre. Da bei eigenen Staatsangehörigen selbst bei Straftaten mit maßgeblichem Auslandsbezug (§ 80 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 IRG) die Zulässigkeit einer Auslieferung stets von der Bereitschaft des ersuchenden Staates zur Rücküberstellung abhängt, ist dies ein Gesichtspunkt, welchen die Bewilligungsbehörde im Rahmen ihrer Entschließung nach § 79 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 IRG zu bedenken und mit den Übrigen in Betracht kommenden Belangen abzuwägen hat.

b. Soweit die Bewilligungsbehörde ihre Entschließung, die Bewilligung der Auslieferung nicht von der Zusicherung der Rücküberstellung abhängig zu machen, darauf stützt, dass die Staatsanwaltschaft M. in dem von ihr geführten Ermittlungsverfahren Erkenntnisse dazu gewonnen habe, dass der Verfolgte in der Bundesrepublik Deutschland bereits nach seiner ersten Einreise im Jahre 2001 fortwährend Straftaten begangen haben soll, ist diese Erwägung bereits deshalb unzulässig, weil sie nicht durch Tatsachen belegt ist.

c. Eine andere Bewertung ist jedoch insoweit angezeigt, als die Bewilligungsbehörde vom Verfolgten in der Bundesrepublik Deutschland begangene und rechtskräftig abgeurteilte Straftaten in ihre Erwägungen mit eingestellt hat. Insoweit ergibt sich aus der Entschließung der Staatsanwaltschaft und dem Akteninhalt, dass der Verfolgte durch Urteil des Landgerichts M. vom 23.2.2006 wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt wurde und die Strafhaft bis 1.11.2008 andauert.

Die Berücksichtigung eines solchen Straferkenntnisses ist nicht grundsätzlich unzulässig.

Bei dieser Sachlage kann der Senat offen lassen, ob die Bewilligungsbehörde in ihre Ermessenserwägungen auch geringfügigere im Inland begangene Vergehen einstellen darf oder ob jedenfalls bei Unionsbürgern der Gesichtspunkt der Einheitlichkeit der Rechtsordnung eine Orientierung an den Maßstäben des FreizügG/EU gebietet. Auch das Vorliegen einer bestandskräftigen Feststellung der Ausländerbehörde, dass ein weiteres Recht auf Aufenthalt des EU-Bürgers nicht besteht, ist keine Voraussetzung, um Verhaltensweisen eines Verfolgten, welche eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit nach § 6 Abs. 1 und 2 FreizügG/EU darstellen, in die gebotene Ermessensabwägung einstellen zu dürfen. Insoweit ist nämlich zu beachten, dass die Entscheidung der Bewilligungsbehörde nach § 79 Abs. 2 Satz 1 IRG einer Wiedereinreise des Verfolgten nach Verbüßung der Haftstrafe im ersuchenden Staat nicht entgegensteht und deshalb nur einen eingeschränkten Regelungsgehalt hat.

Auch die Vereinbarungen der Mitgliedstaaten im Rahmenbeschluss des Rates über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten vom 13.6.2002 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 18.7.2002, ABl 190/1), welche der Senat im Hinblick auf eine rahmenbeschlusskonforme Auslegung der Vorschrift des § 83b Abs. 2a IRG ergänzend herangezogen hat (vgl. EuGH, Urteil vom 16.6.2005, C 105/03 - Pupino), zwingen nicht zu einer Bewilligung der Auslieferung unter der Bedingung der Rücküberstellung. Zwar sieht Art. 5 Nr. 3 RbEuHb vor, dass der ersuchte Staat bei eigenen Staatsangehörigen oder bei im Inland wohnhaften Personen die Übergabe davon abhängig machen kann, dass die verfolgte Person zur Verbüßung der Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung nach Gewährung rechtlichen Gehörs zurück überstellt wird, sieht hierfür jedoch keine näheren Kriterien vor.

d. Hingegen ist die Ermessensabwägung vorliegend auch deshalb rechtsfehlerhaft, weil es an einer ausreichenden Gegenüberstellung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte mangelt.

Bei der Abwägung nach § 83 b Abs. 2a IRG ist insoweit zu prüfen, ob ein Verfolgter angesichts seiner familiären und sozialen Einbindung ein berechtigtes Interesse daran hat, nur ausgeliefert zu werden, wenn gesichert ist, dass er nach Verhängung einer rechtskräftigen Sanktion oder sonstigen Sanktion auf seinen Wunsch nach Deutschland zurück überstellt wird (BT-Drucks. 16/2015, S. 33). Maßgeblicher Ansatzpunkt ist dabei neben der Resozialisierung des Täters vor allem der nach Art. 6 GG zu berücksichtigende Schutz von Ehe und Familie (vgl. BT-Drucks. 16/1024, S. 10, 11). Auch die Dauer des Aufenthalts des Verfolgten in der Bundesrepublik Deutschland und die Intensität der bestehenden Kontakte darf berücksichtigt werden. Insoweit liegt es auf die Hand, dass die Belange eines Verfolgten, eine von einem EU-Mitgliedstaat verhängte Strafe in der Bundesrepublik Deutschland verbüßen zu können, bei einem seit vielen Jahren in der Bundesrepublik Deutschland lebenden und gesellschaftlich integrierten ausländischen Mitbürger anders zu gewichten sein werden als bei einem Verfolgten, der sich - wie hier - erst seit zwei Jahren ständig in der Bundesrepublik Deutschland aufhält.