OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.02.2007 - 17 B 140/06 - asyl.net: M10142
https://www.asyl.net/rsdb/M10142
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Ausweisung, Türken, Türkei, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Unionsbürgerrichtlinie
Normen: VwGO § 80 Abs. 5; RL 64/221/EWG Art. 9 Abs. 1; RL 2004/38/EG Art. 28 Abs. 3 Bst. a
Auszüge:

Die Beschwerde ist nicht begründet.

Die dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat beschränkt ist, § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO, geben keinen Anlass, den angefochtenen Beschluss abzuändern oder aufzuheben.

1. Der Einwand, die Vollziehungsanordnung in der Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 27. November 2002 verstoße gegen Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. 56, S. 850), greift nicht durch.

Es kann vorliegend dahinstehen, ob aus Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG zu folgern ist, dass außer in "dringenden Fällen" die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisungsverfügung erst nach dem Erlass des Widerspruchsbescheids ergehen darf (so: VG Köln, Beschluss vom 12. Dezember 2005 - 23 L 1150/05 -, InfAuslR 2006, 117) und ob gegebenenfalls hier ein "dringender Fall" gegeben ist. Diese Fragen stellen sich inzwischen nicht mehr, da die Richtlinie 64/221/EWG mit Wirkung vom 30. April 2006 durch Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (ABl. L 158 S. 77) aufgehoben worden ist, die ihrerseits keine Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG entsprechende Verfahrensregelung enthält. Diese Änderung der Rechtslage ist im vorliegenden Verfahren zu berücksichtigen (vgl. OVG Niedersachsen, Urteil vom 16. Mai 2006 - 11 LC 324/05 -, InfAuslR 2006, 350, betreffend den - mit Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG nicht zu vereinbarenden - landesrechtlichen Ausschluss des Widerspruchsverfahrens gegen eine Ausweisungsverfügung).

Dies gilt auch dann, wenn man mit dem VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juni 2006 - 11 S 2299/05 -, ZAR 2006, 417 (Leitsatz), zugrunde legt, dass ein Verstoß gegen Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG unbeschadet ihrer späteren Aufhebung weiterhin beachtlich ist, wenn im Zeitpunkt der Aufhebung das Verwaltungsverfahren bereits abgeschlossen war. Denn das die Ausweisung des Antragstellers betreffende Verwaltungsverfahren ist noch nicht abgeschlossen, da der Erlass des Widerspruchsbescheids noch aussteht. Die Entscheidung über die sofortige Vollziehbarkeit der Ausweisung ist als verfahrensrechtliche Nebenentscheidung zu qualifizieren (vgl. Puttler, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Auflage 2006, Rdn. 80 zu § 80) und als solche nicht Gegenstand eines selbständigen Verwaltungsverfahrens.

2. Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis zutreffend zugrunde gelegt, dass die im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotene Abwägung der widerstreitenden Vollzugsinteressen zuungunsten des Antragstellers ausfällt.

a) Allerdings lässt sich gegenwärtig die Frage der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 27. November 2002 in der Fassung seines Schriftsatzes vom 11. August 2005 nicht abschließend beurteilen. Insoweit ist fraglich und muss einer Prüfung im Verfahren zur Hauptsache vorbehalten bleiben, ob die Ausweisung des Antragstellers mit Art. 28 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG vereinbar ist.

Ob die vorstehende Regelung auch für türkische Staatsangehörige gilt, auf die Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 Anwendung findet, ist umstritten (zum Meinungsstand vgl. OVG NRW, Beschluss vom 1. Dezember 2006 - 18 B 2219/06 -, Juris).

Diese Frage ist Gegenstand eines Vorabentscheidungsersuchens an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (VG Darmstadt, Beschluss vom 16. August 2006 - 8 E 1364/05 -, Juris) und einer Klärung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht zugänglich.

b) Da die Erfolgsaussichten des Widerspruchs und einer sich gegebenenfalls anschließenden Klage als offen anzusehen sind, ist die Abwägung der widerstreitenden Vollzugsinteressen unabhängig von diesem Gesichtspunkt vorzunehmen.