VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 01.02.2007 - W 5 K 06.30284 - asyl.net: M10168
https://www.asyl.net/rsdb/M10168
Leitsatz:

Hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei wegen lang zurückliegender, untergeordneter Tätigkeit für die PKK.

 

Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Asylanerkennung, Flüchtlingsanerkennung, Änderung der Sachlage, Reformen, PKK, Unterstützung, Verfolgungssicherheit, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Meinungsfreiheit, Situation bei Rückkehr, Grenzkontrollen, Sippenhaft, Wehrdienstentziehung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; GG Art. 16a Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Hinreichende Sicherheit vor erneuter Verfolgung in der Türkei wegen lang zurückliegender, untergeordneter Tätigkeit für die PKK.

(Leitsatz der Redaktion)

 

1. Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.

3. Nach § 73 AsylVfG ist die Asylanerkennung zu widerrufen, wenn sich die Verhältnisse im Heimatland derart geändert haben, dass jedenfalls im Zeitpunkt des Widerrufs die Gefahr politischer Verfolgung nicht mehr besteht. Auf die Frage, ob der Asylbewerber zu Recht anerkannt worden ist, kommt es nicht an (BVerwG, B.v. 25.08.2004 Nr. 1 C 22.03, NVwZ 05, 89; BVerwG, B.v. 27.07.1997 Nr. 9 B 280/97, NVwZ-RR 97, 741). Die Widerrufsvoraussetzungen liegen vor.

Die ursprünglich festgestellte Verfolgungsbetroffenheit des Klägers ist infolge der zwischenzeitlich eingetretenen grundlegenden Änderungen der politischen Verhältnisse in der Türkei weggefallen. Eine Wiederholung der ehedem dem Kläger drohenden Verfolgungsmaßnahmen kann wegen der seit November 2002 in der Türkei umgesetzten Reformhaben mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden (vgl. VG Ansbach, st. Rspr., zuletzt Ue. v. 15.08.2006 Nr. AN 1 K 30232 u. v. 16.08.2006 AN 1 K 05.31578).

Im Hinblick auf die politische Betätigung des Klägers ist durch die genannten Reformen in der Türkei eine grundlegende Veränderung der Verhältnisse im Heimatland des Klägers eingetreten. Nach seinen eigenen Angaben im Asylverfahren hat der Kläger allenfalls eine untergeordnete Rolle in einem regionalen Komitee der PKK gespielt. Er wurde im Zusammenhang mit seiner politischen Betätigung in Istanbul weder festgenommen noch sonst wie von Sicherheitskräften tangiert. Ein persönliches Verfolgungsschicksal konnte der Kläger nicht vorweisen, eine behauptete Haft und Folterung in Tuncelli lag schon zum Ausreisezeitpunkt zu weit zurück, um fluchtkausal zu sein (vgl. im Einzelnen U.d. VG Würzburg vom 07.08.2000 Nr. W 4 99.30126, S. 9 des Urteilsumdrucks). Beim Kläger handelte es sich auch angesichts seiner sehr rudimentären Kenntnisse von der Struktur der PKK, ihren Zielen und Slogans um einen unbedeutenden Mitläufer. Eine gleichwie geartete Verfolgung des Klägers ist nach alledem heute mit hinreichender Sicherheit, erst recht aber mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen.

Nach so langer Zeit und nach Eintritt der oben dargestellten Veränderungen der Verhältnisse in der Türkei haben die türkischen Sicherheitskräfte schlicht an Leuten wie dem Kläger keinerlei Interesse mehr. Der Kläger ist deshalb bei einer Rückkehr in die Türkei auch vor anderen asylerheblichen Repressionen, insbesondere vor Folter hinreichend sicher.

Ist der türkischen Grenzpolizei bekannt, dass es sich um eine abgeschobene Person handelt, wird diese nach Ankunft in der Türkei einer Routinekontrolle unterzogen, die einen Abgleich mit dem Fahndungsregister nach strafrechtlich relevanten Umständen und eine eingehende Befragung beinhalten kann. Abgeschobene können dabei in den Diensträumen der jeweiligen Polizeiwache vorübergehend zum Zwecke einer Befragung festgehalten werden. Gleiches gilt, wenn jemand keine gültigen Reisedokumente vorweisen kann oder aus seinem Reisepass ersichtlich ist, dass er sich ohne Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland aufgehalten hat. Die Einholung von Auskünften kann je nach Einreisezeitpunkt und dem Ort, an dem das Personenstandsregister geführt wird, einige Stunden dauern. In neuerer Zeit wurde dem Auswärtigen Amt nur ein Fall bekannt, in dem eine Befragung bei Rückkehr länger als mehrere Stunden dauerte. Besteht der Verdacht einer Straftat (z.B. Passvergehen, illegale Ausreise), werden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. Insoweit handelt es sich jedoch nicht um asylerhebliche Vorgänge.

Das Auswärtige Amt hat in den vergangenen Jahren Fälle, in denen konkret Behauptungen von Misshandlungen oder Folter in die Türkei abgeschobener Personen (vor allem abgelehnter Asylbewerber) vorgetragen wurden, im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten durch seine Auslandsvertretungen stets überprüft. Dem Auswärtigen Amt ist seit fast vier Jahren kein einziger Fall bekannt geworden, in dem ein aus der Bundesrepublik Deutschland in die Türkei zurückgekehrter abgelehnter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt wurde. Das Auswärtige Amt geht deshalb davon aus, dass bei abgeschobenen Personen die Gefahr einer Misshandlung bei Rückkehr in die Türkei nur aufgrund vor Ausreise nach Deutschland zurückliegender wirklicher oder vermeintlicher Straftaten auch angesichts der durchgeführten Reformen und der Erfahrungen der letzten Jahre in diesem Bereich äußerst unwahrscheinlich ist. Misshandlungen oder Folter allein aufgrund der Tatsache, dass ein Asylantrag gestellt wurde, schließt das Auswärtige Amt aus (vgl. Lagebericht Türkei vom 27. Juli 2006).

Das erkennende Gericht schließt sich dieser Einschätzung an (vgl. auch VG Ansbach, a.a.O., m.w.N., insbesondere zur obergerichtlichen Rechtsprechung), mag es auch im Reformprozess zu gelegentlichen Rückschlägen kommen und mag sich der Reformprozess in letzter Zeit auch verlangsamt haben.

Die aktuelle Erkenntnislage über die Situation in der Türkei rechtfertigt auch nicht (mehr) die Prognose, dass Sippenhaft nahen Angehörigen von landesweit gesuchten Aktivisten einer militanten staatsfeindlichen Organisation droht: Die Praxis des Zugriffs auf Familienangehörige einer gesuchten Person hat sich verändert (vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen, U.v. 19.04. 2005 Nr. 8 A 273/04 A, S. 102; VG Aachen, U.v. 8.11.2006 Nr. 6 K 2099/05 A).

Die behauptete Wehrdienstentziehung des Klägers hat das Bundesamt zu Recht als asylrechtlich unerheblich angesehen.