VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 09.01.2007 - AN 9 K 04.31066 u.a. - asyl.net: M10262
https://www.asyl.net/rsdb/M10262
Leitsatz:

§ 60 Abs. 7 AufenthG für Ehefrau und Mutter aus dem Irak, die von ihrem Ehemann verstoßen wurde.

 

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Änderung der Sachlage, Machtwechsel, Baath, alleinstehende Frauen, alleinerziehende Frauen, Verstoßung, Mord, Familienehre, Ehrenmord, Versorgungslage, Existenzminimum, Abschiebungsstopp, Erlasslage
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 3; GFK Art. 1 C Nr. 5; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

§ 60 Abs. 7 AufenthG für Ehefrau und Mutter aus dem Irak, die von ihrem Ehemann verstoßen wurde.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klagen sind zulässig, aber nur zum Teil begründet. Die Klagen, die auf Aufhebung der Bescheide des Bundesamtes vom 28. Juni 2004 sowie auf die Verpflichtung der Beklagten, Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 AufenthG festzustellen, gerichtet sind, sind nur insoweit begründet, als Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verneint worden sind.

Eine entscheidungserhebliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse im Irak liegt vor. Der sich aus den allgemein zugänglichen Medien und den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen (vgl. insbesondere den in das Verfahren eingeführten aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes) ergebende Sturz des Regimes von Saddam Hussein stellt genau einen solchen politischen Systemwechsel dar, wie ihn das Bundesverwaltungsgericht in seiner vorgenannten Entscheidung angesprochen hat. Durch diesen politischen Systemwechsel im Irak ist jedenfalls die früher vom Regime Saddam Hussein ausgehende Gefahr unmittelbarer oder mittelbarer politischer Verfolgung nunmehr eindeutig landesweit entfallen (so auch etwa BVerwG, Urteil vom 25.8.2004, Az. 1 C 22/03, juris-Nr. WBRE 410011104; BayVGH, Beschluss vom 24.11.2004, Az. 13a 04.30969).

3. Dem Widerruf steht auch nicht § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG oder Art. 1 C Nr. 5 Satz 2 GK entgegen.

4.3 Entgegen der Auffassung der Beklagten liegen dagegen die Voraussetzungen hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 AuslG - nunmehr § 60 Abs. 7 AufenthG - vor, wobei sich dies allein auf den Satz 1 der genannten Bestimmung bezieht. Hiernach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.

Angesichts der derzeitigen persönlichen Situation der Klägerinnen und der sich nach den vorliegenden Auskünften ergebenden Situation im Irak, muss davon ausgegangen werden, dass bezüglich der Klägerinnen für den Fall einer jetzigen Rückkehr in den Irak Abschiebungshindernisse bestehen. Wie sich aus den glaubhaften Darlegungen der Klägerinnen wie auch aus den beigezogenen Ausländerakte ergibt, lebte die Klägerin zu 1) mit ihrer Tochter, der Klägerin zu 2), nicht nur seit ... getrennt von ihrem ehemaligen Ehemann, sondern musste auch vor dieser Trennung wiederholt und länger mit ihrer Tochter Schutz in Frauenhäusern in Anspruch nehmen. Nach den glaubhaften Angaben der Klägerin zu 1) wurde sie auch nach Rückkehr des ehemaligen Ehemanns in den Irak von diesem verstoßen. Die Klägerin zu 1) sowie die Klägerin zu 2) stehen demzufolge vor einer Situation dergestalt, dass sie bei einer jetzigen Rückkehr in den Irak allein für ihren Lebensunterhalt zu sorgen hätten. Bereits unter Berücksichtigung dieser Tatsache kann unter Zugrundelegung der tatsächlichen Lage im Irak, wie sich aus den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Auskünften ergibt, davon ausgegangen werden, dass den Klägerinnen Gefahren im Sinn des § 53 Abs. 7 Satz 1 AufenthG drohen. Die Klägerinnen würden wegen der instabilen Lage sowohl hinsichtlich der Sicherheit als auch der Versorgung mit Unterkunft, Lebensmitteln und medizinischen Leistungen einer hohen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt sein. Wie sich aus den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Auskünften insgesamt ergibt, ist die Lage im Irak, insbesondere auch in und um die Stadt Mosul, aus der die Klägerinnen stammen, höchst instabil. Dies betrifft nicht nur die Auseinandersetzungen zwischen den verfeindeten ethnischen und religiösen Gruppen, sondern auch insbesondere die Versorgung mit den Gütern des täglichen Bedarfs und die medizinische Versorgung. Die Klägerin zu 1) hätte mit ihrer Tochter, der Klägerin zu 2), keine Möglichkeit einer Existenzgründung.

Auch im Hinblick auf die nach wie vor im Irak weilende Familie der Klägerin zu 1) ergibt sich keine andere Beurteilung insoweit. Die Klägerin hat nachvollziehbar und gleich bleibend für das Gericht von ihren Befürchtungen gesprochen, wegen der ehrenrührigen Verstoßung durch ihren ehemaligen Ehemann in den Irak zurückgebracht und dort möglicherweise getötet zu werden, um die Familienehre wieder herzustellen. Dass diese Befürchtungen durchaus einen realistischen Hintergrund haben, wird durch das vom Bevollmächtigten der Klägerin vorgelegte Gutachten des Europäischen Zentrums für kurdische Studien klar bestätigt, das sich zur Gefährdung irakischer Frauen äußert, die sich bezüglich der Eheschließung und Lebensführung nicht dem Willen und den Moralvorstellungen ihrer Familie beugen.

Zwar kann nach den zum Verfahren eingeholten Stellungnahmen des Deutschen Orient-Institutes vom 14. Juni 2005 und vom 30. Januar 2006 nicht davon ausgegangen werden, dass der Klägerin zu 1) wegen der Verstoßung nach den dargelegten Umständen ein Ehrenmord droht. Nach den glaubhaften Angaben der Klägerin zu 1) zu dem bisherigen Verhalten ihrer Familie und den in den o.g. Gutachten dargelegten Folgen einer Verstoßung, nämlich, dass der Frau nicht nur ein nicht ausräumbarer gesellschaftlicher Makel anhaftet, sondern die Klägerin auch eine "soziale Gefahr" darstellt, kann ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass die Klägerinnen bei einer Rückkehr in den Irak nicht unter dem Schutz und mit der Unterstützung ihrer Familie leben können. Aus den genannten, zum Verfahren eingeholten Gutachten des Deutschen Orient-Institutes muss damit aber - im Ergebnis nicht minder dramatisch - davon ausgegangen werden, dass ein Überleben der Klägerin zu 1) mit ihrer Tochter, der Klägerin zu 2), im Irak als unverheiratete Frau nicht möglich ist. Auch die Stellungnahme des Deutschen Orient-Institutes vom 30. Januar 2006 kommt klar und unmissverständlich für den konkreten Fall zum Schluss, dass man die Klägerin zu 1) mit ihrer Tochter, der Klägerin zu 2), nicht in den Irak zurückschicken kann, da sie dort in gesellschaftlich-sozialer Weise kein Bein mehr auf den Boden bekommen würden.

Auch der Umstand des zuletzt bei der Konferenz der Innenminister- und Senatoren am 16. November 2006 in Nürnberg verlängerten Abschiebestopps für Flüchtlinge aus dem Irak lassen hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG, nunmehr § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, keine andere Entscheidung zu. Es handelt sich im vorliegenden Fall insoweit nicht um allgemeine Gefahren im Zielstaat, sondern um eine individuelle spezielle Gefahrenlage für die Klägerinnen auf Grund der Verstoßung durch den Ehemann der Klägerin zu 1), die notwendigerweise ein Abschiebungshindernis begründen.