VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 20.12.2006 - W 4 K 06.30381 - asyl.net: M10280
https://www.asyl.net/rsdb/M10280
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Turkmenen, Militär, Kämpfer (ehemalige), Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, Sicherheitslage, Versorgungslage, Abschiebungsstopp, Erlasslage, extreme Gefahrenlage, Anerkennungsrichtlinie, ernsthafter Schaden, bewaffneter Konflikt, willkürliche Gewalt
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG.

Darüber, dass die irakische Zentralregierung Personen bestimmter Volkszugehörigkeit, wie die Turkmenen, verfolgt, liegen keine Erkenntnisse vor. Vielmehr ist die irakische Turkmenenfront im neuen Parlament mit einem Abgeordneten vertreten. Was die allgemeine Situation der Turkmenen im Irak anbetrifft, stützt sich das Gericht im Wesentlichen auf den Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29. Juni 2006 (S. 21). Darin ist dargelegt, dass die Turkmenen befürchten, Opfer der Spannungen zwischen Arabern und Kurden im Zuge der Rückgängigmachung der Arabisierungskampagnen des Saddam-Hussein-Regimes zu werden. Auch ist in und um Kerkuk eine "Zwangskurdisierung" zu beobachten, die Araber und Turkmenen gleichermaßen beklagen. Konkrete Ausschreitungen gegen Turkmenen sind jedoch bis auf einen Vorfall im Dezember 2003, bei dem acht Demonstranten im Rahmen einer arabisch-turkmenischen Demonstration erschossen wurden, nicht dokumentiert. Schwierigkeiten im täglichen Leben wegen der Volkszugehörigkeit stellen noch keine "Verfolgung" im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG dar.

3. Schließlich kommt für den Kläger auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Betracht.

Nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG werden Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei der Entscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt.

Die schlechte Sicherheits- und Versorgungslage im Irak ist eine allgemeine Gefahr i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof nimmt bei irakischen Staatsangehörigen einen Abschiebestopp an, welcher dem Schutz nach § 60a AufenthG gleichwertig sei (siehe z.B. U. v. 10.05.2005, 23 B 05.30217). Nach dem ZR-INFO 15/2005 (v. 10.11.2005) der Regierung von Oberbayern sind Rückführungen in den Irak nach wie vor nicht möglich.

Wenn man den für Bayern geltenden Abschiebestopp für irakische Flüchtlinge nicht genügen lässt, kann aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kein Abschiebungsverbot wegen der allgemeinen Lage abgeleitet werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (siehe z.B. U. v. 12.07.2001, a. a. O.) kommt ein Abschiebungsverbot aufgrund allgemeiner Gefahren im Wege einer verfassungskonformen Anwendung des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG (jetzt: § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) nur bei einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat in Betracht. Das sei der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde. Eine derartige Gefahrenlage besteht nach Auffassung der Kammer im Irak landesweit nicht.

Die direkte Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG (ABl. L 304/12 vom 30.09.2004), deren Umsetzungsfrist am 10. Oktober 2006 abgelaufen ist, zwingt zu keiner anderen Beurteilung. Die Berücksichtigung der Vorschriften über die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach Art. 18 i. V. m. Art. 2 lit. e), 15 der Richtlinie erfordert keine abweichende Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Nach Art. 2 lit. e) der Richtlinie 2004/83/EG ist unter einer "Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz" ein Drittstaatsangehöriger zu verstehen, der stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland einen ernsthaften Schaden i. S. d. Art. 15 erleidet. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß Art. 15 lit. c) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Der Hinweis auf die Bedrohung infolge "willkürlicher Gewalt" führt nicht zu einem Verzicht auf die strengen Anforderungen an den Nachweis einer konkreten Gefährdungslage (so auch Hailbronner, Ausländerrecht, AufenthG, § 60, Rdnr. 134). Zum Ausdruck kommt dies auch in Ziffer 26 der Präambel der Richtlinie 2004/83/EG. Dort wird ausdrücklich betont, dass "Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen normalerweise keine individuelle Bedrohung darstellen, die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre". Hinzukommen muss daher auch im Geltungsbereich der Richtlinie 2004/83/EG ein besonderer Aspekt, der eine konkrete Gefährdung einer Person, im Rahmen des innerstaatlichen Konflikts Opfer willkürlicher Gewalt zu werden, begründet. Im Falle des Klägers sind jedoch keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass er aufgrund besonderer, nur ihn betreffender Umstände Opfer willkürlicher Gewalthandlungen werden könnte. Selbst der UNHCR-Kommentar zur Begründungserwägung (26) der Richtlinie 2004/83/EG verzichtet nicht auf die Betonung der individuellen Bedrohungssituation, sondern stellt nur klar, dass auch größere, von denselben Risiken betroffene Bevölkerungssegmente im Lichte der Richtlinie und hier besonders Art. 15 lit. c) Schutz erlangen müssen.