VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 18.12.2006 - 4 B 45/06 - asyl.net: M10293
https://www.asyl.net/rsdb/M10293
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Widerruf, Aufenthaltserlaubnis, Konventionsflüchtlinge, Ermessen, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Ablehnungsbescheid, Bindungswirkung, Ausländerbehörde, Integration, Situation bei Rückkehr, Suizidgefahr, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), Suspensiveffekt, Sofortvollzug, Begründung
Normen: AufenthG § 52 Abs. 1 S. 1 Nr. 4; VwGO § 80 Abs. 5; VwGO § 80 Abs. 3
Auszüge:

Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO ist, soweit er sich gegen den Widerruf der Niederlassungserlaubnis richtet, als Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung, soweit er sich gegen die gleichzeitig verfügte Androhung der Abschiebung richtet, als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung zulässig und insgesamt begründet.

Rechtsgrundlage für den angegriffenen Bescheid ist § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG.

Die anzustellende Ermessensentscheidung ist nur im Rahmen des § 114 VwGO überprüfbar, unterliegt aber dennoch bereits nach summarischer Überprüfung erheblichen rechtlichen Bedenken. Der Gesetzgeber eröffnet der Ausländerbehörde in den Fällen des § 52 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG einen weiten Spielraum. Die Behörde darf grundsätzlich davon ausgehen, dass bei Erlöschen oder Unwirksamwerden der Asylanerkennung in der Regel auch ein gewichtiges öffentliches Interesse an dem Widerruf des asylbedingten Aufenthaltstitels besteht. Allerdings müssen dennoch sämtliche Umstände des Einzelfalles und damit auch die schutzwürdigen Belange des Ausländers an einem weiteren Verbleib in der Bundesrepublik Deutschland in den Blick genommen werden (vgl. BVerwG, U. v. 20.02.2003 - 1 C 13/02 - zu § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG, in Juris).

Hiervon ausgehend ist festzustellen, dass der Antragsgegner von dem ihm zustehenden Ermessen bislang in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Die Ermessensbetätigung bei Widerruf des asylbedingten Aufenthaltstitels hat sich an den gesetzlichen Vorgaben des § 55 Abs. 3 AufenthG zu orientieren (Renner, AuslR, 8. Aufl., § 52 Rdnr. 10; Heilbronner, AuslR, Stand Juni 2006, Rdnr. 12 und 32; VGH Baden-Württemberg, B. v. 11.02.2005 - 11 S 1170/04 - in Juris). Ebenso wie bei der Ausweisung sind insbesondere die Dauer des rechtmäßigen Aufenthalts und die schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers zu berücksichtigen; darüber hinaus auch die individuellen Chancen einer erfolgreichen Wiedereingliederung in die Verhältnisse im Heimatland (Heilbronner aaO mit Verweis auf Hess. VGH, B. v. 28.05.2003, InfAuslR 2003, 400-402).

Dem wird die angefochtene Widerrufsentscheidung nicht gerecht. Die von der Antragstellerin schon im Anhörungsverfahren vorgetragenen persönlichen und gesundheitlichen Aspekte wurden vielmehr komplett ausgeblendet und lediglich im Rahmen der Abschiebungsandrohung berücksichtigt mit dem Hinweis, dass eine etwaige Reiseunfähigkeit aufgrund Suizidgefahr berücksichtigt werden könne, sobald die Abschiebung bevorstehe und dass die Gefahr erneuter und vermehrter Gewalttätigkeiten von Seiten des Ehemannes im Falle einer gemeinsamen Rückkehr nach Armenien als zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis lediglich vom Bundesamt im Rahmen der asylverfahrensrechtlichen Zuständigkeit berücksichtigt werden könne. Darüber hinaus ist auch die von der Antragstellerin geltend gemachte Integrationsleistung nicht ausreichend gewürdigt und abgewogen.

Nach alledem spricht derzeit Überwiegendes dafür, dass die Antragstellerin mittlerweile gut integriert ist und, so bescheinigt es auch das eingereichte Attest vom 01.11.2006, nach der gesundheitlichen Stabilisierung auch wieder Arbeitsfähigkeit erlangen wird. Schließlich hält das Gericht auch die von ihr beschriebenen persönlichen Gefahren im Falle einer Rückkehr nach Armenien derzeit für realistisch. Sie sind - obwohl zielstaatsbezogen - nach den oben genannten Grundsätzen auch im Rahmen der hier zu treffenden ausländerrechtlichen Ermessensentscheidung zu berücksichtigen.

Ob die angeführten Gründe zur Annahme einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit des Widerrufs führen, bedarf keiner Entscheidung. Es liegt auf der Hand, dass eine erweiterte Interessenabwägung in Anbetracht der derzeit anzunehmenden Integration und der befürchteten persönlichen Gefahren in Armenien zugunsten der Antragstellerin ausgehen muss.

Anzumerken bleibt, dass auch die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht den gesetzlichen Anforderungen entspricht. In den Fällen, in denen die Behörde gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse anordnet, ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes gem. § 80 Abs. 3 VwGO schriftlich zu begründen. Diese Begründung muss konkret auf den Einzelfall eingehen und in Rechnung stellen, dass es eines besonderen öffentlichen Interesses bedarf, das über das Interesse an dem Verwaltungsakt selbst hinausgehen muss. Es müssen deshalb zur Begründung des besonderen Vollziehungsinteresses regelmäßig andere Gründe angeführt werden, als sie zur Rechtfertigung des zu vollziehenden Verwaltungsaktes herangezogen wurden (OVG Schleswig, Beschluss vom 22.08.1991 - 4 M 115/91 - in SchlHAnz 1992, 96 f). Diese Rechtsprechung gilt auch für den Fall der Anordnung der sofortigen Vollziehung des Widerrufs eines Aufenthaltstitels gemäß § 52 AufenthG. In der Rechtsprechung wird insoweit die Darlegung eines "dringenden unverzüglichen Handlungsbedarfs" vorausgesetzt (dazu eingehend VGH Baden-Württemberg aaO; VG Göttingen, B. v. 11.04.2005 - 3 B 297/05 - in Juris). Diesen Anforderungen genügt die vorliegende Vollziehungsanordnung nicht, da sie nur die im Rahmen der Ermessensentscheidung bereits angeführten Aspekte eines öffentlichen Interesses wiederholt (Verweis auf Verwendung einer falschen Identität und des Vortäuschens einer anderen Staatsangehörigkeit sowie auf den fortbestehenden Bezug von Arbeitslosengeld II). Ein dringender unverzüglicher Handlungsbedarf ergibt sich daraus nicht. Insbesondere der Bezug öffentlicher Leistungen kann nicht zur Begründung einer besonderen Dringlichkeit herangezogen werden, wenn dieser bereits vor Erlass der Widerrufsentscheidung bestand (VG Göttingen aaO). Im Übrigen wären auch hier die dazu führenden persönlichen Umstände zu berücksichtigen.