VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 13.12.2006 - 2 E 871/06.A - asyl.net: M10305
https://www.asyl.net/rsdb/M10305
Leitsatz:

In Afghanistan besteht eine extreme allgemeine Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG für Personen ohne familiären Rückhalt in Kabul.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, alleinstehende Personen, soziale Bindungen, Situation bei Rückkehr, Versorgungslage, Wohnraum, Existenzminimum, RANA-Programm, IOM, Kabul
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

In Afghanistan besteht eine extreme allgemeine Gefahrenlage i.S.d. verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 AufenthG für Personen ohne familiären Rückhalt in Kabul.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

Nach § 60 Abs. 7 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.

Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG werden hierbei allerdings Gefahren in dem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Entscheidungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt.

Ebenso wie früher § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG muss auch § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG verfassungskonform dahin ausgelegt werden, dass von der Abschiebung eines Ausländers unter bestimmten Voraussetzungen abzusehen ist, wenn das Verfassungsrecht dies gebietet (BVerwG vom 17.10.1995, 9 C 15.95, BVerwGE 99, 331). Dies kann der Fall sein, wenn die Oberste Landesbehörde trotz einer extremen allgemeinen Gefahrenlage, die jeden einzelnen Ausländer im Falle seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde, von der Ermessensermächtigung nach § 60 a AufenthG keinen Gebrauch gemacht hat und keinen generellen Abschiebestopp verfügt hat.

Diese Voraussetzungen sind im Falles Klägers erfüllt.

Ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen ist die Versorgungslage im gesamten Land als katastrophal anzusehen.

Zwar sind in Afghanistan zahlreiche supranationale, staatliche und private Hilfsorganisationen tätig, die sich bemühen, die Versorgung der notleidenden Bevölkerung sicher zu stellen. Dieses gelingt ihnen jedoch nur völlig unzureichend, wie sich aus den insofern übereinstimmenden Auskünften zur Lage in Afghanistan ergibt. Selbst das Auswärtige Amt (AA) hat die Wirtschaftslage Afghanistans als einem der ärmsten Länder der Welt als desolat bezeichnet. Angesichts der etwa 4,4 Millionen Flüchtlinge, die zumeist aus Pakistan zurückkehren, stehe das Land vor gewaltigen Herausforderungen, die kaum zu meistern seien. Die Wohnraumversorgung sei absolut unzureichend, die Preise in Kabul extrem hoch. Angesichts der Notwendigkeit, für die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, seien die Preise dafür exorbitant gestiegen. Rückkehrende Asylbewerber würden nur dann mit menschenwürdigem Wohnraum versorgt, wenn sie auf die Hilfe von Familienangehörigen in Kabul zurückgreifen könnten (AA, Lagebericht vom 13.07.2006, Seite 5).

Die Aussagen des sachverständigen Zeugen Georg David vor dem OVG Berlin-Brandenburg vom 27.03.2006, wonach es Übergangshilfen bis hin zu Wohnunterkünften und Startgeldern für Rückkehrer in Kabul gebe, halten den detaillierten und nachvollziehbaren Gegenargumenten des Dr. Danesch nicht Stand. Sowohl in seinen Aussagen vor dem OVG Berlin-Brandenburg am 05.05.2006 als auch in seinem neuesten und ausführlichen Gutachten an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel vom 04.12.2006 legt Dr. Danesch dar, dass die Aussagen des Herrn David ein (jedenfalls zum heutigen Zeitpunkt) gänzlich unzutreffendes Bild zeichnen und dass es in Wahrheit für freiwillig nach Afghanistan zurückkehrende (ehemalige) Flüchtlinge praktisch keine realistische, langfristige Existenz- und Überlebensmöglichkeit gibt, es sei denn, sie können auf familiären Rückhalt zurückgreifen.

Auch nach dem Bericht "Zur Lage in Afghanistan" vom Informationsverbund Asyl vom 01.10.2006 stellt sich die Situation in Afghanistan katastrophal dar.

In Würdigung dieser Umstände steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die aus Deutschland zurückkehrenden Asylbewerber, die nicht auf den Rückhalt von Verwandten in Kabul - das aufgrund der Sicherheitslage einzig für eine Rückkehr in Betracht kommt (vgl. dazu im Detail Dr. Danesch an Hess. VGH vom 04.12.2006; zudem: VG Meiningen vom 16.11.2006, 8 K 20639/03 Me, JURIS) - zurückgreifen können, außerstande sind, aus eigener Kraft für ihre Existenz zu sorgen. Sie haben keinerlei Chance, der Obdachlosigkeit und der Arbeitslosigkeit zu entgehen. Eine Betätigung als Tagelöhner ist angesichts des Heeres von freiwilligen Rückkehrern, die sich um solche Einkommensquellen bemühen, so gut wie ausgeschlossen. Die abgeschobenen Rückkehrer unterfallen auch nicht dem Mandat des UNHCR, der mit seinem Programm nur freiwillige Rückkehrer unterstützt, und können deshalb nicht mit ausreichender humanitärer Hilfe rechnen (vgl. Informationsverbund Asyl, "Zur Lage in Afghanistan" vom 01.10.2006).

Alledem zufolge gebietet die verfassungskonforme Anwendung von § 60 Abs. 7 AufenthG die Feststellung, dass von der Abschiebung afghanischer Staatsangehöriger, die bei einer Rückkehr in ihr Heimatland nicht auf familiäre Unterstützung in Kabul zurückgreifen können, abzusehen ist (ebenso: VG Meiningen vom 16.11.2006, 8 K 20639/03 Me; VG Köln vom 12.04.2006, 14 K 700/04.A; VG Sigmaringen vom 16.03.2006, A 2 K 10668/05; VG Karlsruhe vom 09.11.2005, A 10 K 12302/03, AuAS 2006, 47).