VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 30.11.2006 - 8 K 20532/03.Me - asyl.net: M10335
https://www.asyl.net/rsdb/M10335
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung eines afghanischen Staatsangehörigen wegen Konversion zum Christentum.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Apostasie, Konversion, Christen, Todesstrafe, religiös motivierte Verfolgung, mittelbare Verfolgung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung eines afghanischen Staatsangehörigen wegen Konversion zum Christentum.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Nach diesen Grundsätzen steht dem Kläger ein Anspruch auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG zu, weil er im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine abschiebungsschutzrelevante Verfolgung wegen der von ihm glaubhaft vorgetragenen Apostasie zu befürchten hat.

Nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen besteht für den Kläger bei einer Rückkehr und einem Bekannt werden seiner Konversion in Afghanistan eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass er wegen des Abfalls vom islamischen Glauben abschiebungsschutzrelevanten Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt ist, die der Regierung Karzai zumindest zuzurechnen wären. Der Kläger hat durch Vorlage seines Taufscheines und Stellungnahmen der Afghanischen freikirchlichen Gemeinschaft glaubhaft dargelegt, dass seine Konversion auf einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel beruht.

Bereits unter der Herrschaft der Taliban mussten Konvertiten zum Christentum mit der Todesstrafe rechnen. Es ist nicht erkennbar, dass sich die Einstellung staatlicher Stellen gegenüber Konvertiten unter der Regierung Karzai in erheblicher Weise geändert hat. Auch die im Januar 2004 in Kraft getretene Verfassung Afghanistans enthält in Artikel 3 einen Vorbehalt, nach dem Gesetze nicht dem Glauben und den Bestimmungen des Islam zuwider laufen dürfen. Die Verfassung sieht weiterhin für den Fall, dass andere gesetzliche Normen nicht anwendbar sind, die Anwendung der Scharia in den Grenzen der Verfassung vor. Auch Staatspräsident Karzai hat darauf hingewiesen, dass Afghanistan ein islamisches Land ist. Nach dem Verständnis der islamischen Rechtslehre ist der Abfall vom Glauben ein todeswürdiges Verbrechen. Seit August 2002 gibt es beim Obersten Gerichtshof Afghanistans eine mit staatsanwaltschaftlichen Befugnissen ausgestattete Abteilung zur "Bekämpfung des Lasters", die unter den Taliban als Sittenpolizei fungierte und deren wesentliche Funktion in der Vermittlung afghanischer Werte besteht. Im Religionsministerium ist eine Abteilung zur Überwachung der Einhaltung religiöser Vorschriften gegründet worden, die eine Unterabteilung "Erkennen von Unglauben" umfasst. Die islamischen Richter sind weitgehend wieder eingesetzt und der ehemalige Mudjaheddin-Kommandant Abdul Rasul Sayyaf, ein streng fundamentalistischer wahabitischer Geistlicher, ist in Kabul erneut zu großem Einfluss gelangt. Der Vizepräsident des Obersten Gerichts und der Oberste Richter Afghanistans treten darüber hinaus für radikal-islamische Verhaltensweisen ein. Letzterer hat in Kabul ein Rechtssystem etabliert, in dem nach islamischem Recht geurteilt wird. Zwar hat Präsident Karzai im Frühjahr 2006 eine Neubesetzung der Richter am Obersten Gerichtshof vorgeschlagen, es ist jedoch nicht bekannt, ob dieser Vorschlag schon Folgen gehabt hat (vgl. zum gesamten Vorstehenden: Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 13.07.2006; Lagebericht vom 03.11.2004; Danesch, Gutachten vom 13.05.2004, Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 03.02.2006 und 01.03.2004; VG Minden, U. v. 13.01.2005 -Az.: 9 K 5560/03.A; VG Lüneburg, U. v. 10.05.2005 - 1 A 872/03 -).

Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes (Lagebericht vom 13.07.2006) ist zur tatsächlichen Situation von Konvertiten in Afghanistan kaum etwas bekannt, da sie ihr Bekenntnis meist geheim halten. Es gibt für sie keine offene Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens. Selbst zu Gottesdiensten, die in Privathäusern von internationalen Nichtregierungsorganisationen abgehalten werden, erscheinen sie nicht. Im März 2006 wurde ein afghanischer Staatsangehöriger wegen Konvertierung zum Christentum angeklagt. Es wurde ein Verfahren wegen Apostasie eröffnet, in dem mit seiner Todesstrafe gerechnet wurde. Erst infolge internationalen Drucks wurde er freigelassen und ihm in der Folgezeit Asyl in Italien gewährt. Die Entscheidung zu seiner Freilassung hatte zu einer heftigen Debatte im afghanischen Parlament geführt, anlässlich derer der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses von einer Verschwörung einer "ungläubigen Organisation" gesprochen hat. Es wurde eine Resolution angenommen, die die Freilassung als rechtswidrig beschrieb und ein Verbot zum Verlassen des Landes aussprach.

Angesichts der vorstehenden Ausführungen besteht für den Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einem Bekannt werden seiner Konversion eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass er wegen des Abfalls vom islamischen Glauben Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt wäre, die der Regierung von Präsident Karzai zuzurechnen wäre oder gegen die er jedenfalls keinen Schutz durch diese erhalten würde.