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VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 24.04.2007 - 2 K 4/07.A - asyl.net: M10357
https://www.asyl.net/rsdb/M10357
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen Übertritts zum Christentum; Gottesdienstbesuch nicht ohne Verfolgungsgefahr möglich; Flüchtlingsanerkennung bei Verfolgung wegen der Religion ist nicht auf das "religiöse Existenzminimum" beschränkt.

 

Schlagwörter: Iran, Folgeantrag, Änderung der Rechtslage, Anerkennungsrichtlinie, Christen, Konversion, Apostasie, Religion, religiös motivierte Verfolgung, religiöses Existenzminimum, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b; AsylVfG § 28 Abs. 2
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung wegen Übertritts zum Christentum; Gottesdienstbesuch nicht ohne Verfolgungsgefahr möglich; Flüchtlingsanerkennung bei Verfolgung wegen der Religion ist nicht auf das "religiöse Existenzminimum" beschränkt.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

Soweit der angegriffene Bescheid des Bundesamtes die beiden Kläger betrifft, ist er rechtswidrig und verletzt sie in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 und Abs. 5 VwGO). Sie haben im maßgebenden Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylVfG) einen Anspruch darauf, dass die Beklagte auf ihren Folgeantrag vom 3. November 2006 hin bei ihnen das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (früher: § 51 Abs. 1 AuslG) hinsichtlich des Iran feststellt, weil ihnen im Falle der Rückkehr in den Iran wegen ihres christlichen Glaubens mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht.

Entgegen der Ansicht der Beklagten liegen zunächst die Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens vor. Die Möglichkeit einer die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG feststellenden Entscheidung ergibt sich jedenfalls aufgrund einer Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG. Nach Abschluss des vorangegangenen Asylverfahrens wurde es notwendig, die Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über die Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EG Nr. L 304/12 vom 30. September 2004; im folgenden: Richtlinie) in Deutschland anzuwenden. Die Frist zum Umsetzen der Richtlinie in nationales Recht endete am 10. Oktober 2006. Bei Zugrundelegung des Religionsbegriffs des Art. 10 Abs. 1 b) dieser Richtlinie, die - wie näher auszuführen sein wird - bei der Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG Berücksichtigung finden muss, droht den Klägern politische Verfolgung weil ihr religiöses Existenzminimum im Iran nicht gewährleistet ist. Insbesondere müssen sie bei Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich Verfolgung befürchten. Auch insoweit wird auf die nachfolgenden Ausführungen verwiesen.

Ausgehend von diesen Grundsätzen besteht der geltend gemachte Feststellungsanspruch nach § 60 Abs. 1 AuslG, weil das Gericht die notwendige Überzeugung gewinnen konnte, dass den Klägern im Falle der Rückkehr in ihr Heimatland wegen ihrer Konversion vom Islam zum Christentum mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung droht.

Zunächst ist festzustellen, dass das Gericht keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit des Übertritts der Kläger zum christlichen Glauben hat.

Haben sich die Kläger damit ernsthaft vom Islam abgewandt und sind sie zur christlichen Religion übergetreten, droht bei Rückkehr in den Iran politische Verfolgung, weil sie dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatlichen Zwangsmaßnahmen ausgesetzt wären, wenn sie ihren christlichen Glauben nach außen erkennbar, etwa durch eine regelmäßige Teilnahme an öffentlichen Gottesdiensten, praktizierten. Dabei geht das erkennende Gericht davon aus, dass asyl- bzw. abschiebungsrelevante Eingriffe wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion nicht erst dann vorliegen, wenn die Religionsausübung auch im privaten Bereich, also abseits der Öffentlichkeit und in persönlicher Gemeinschaft mit anderen Gläubigen dort, wo man sich nach Treu und Glauben unter sich wissen darf, verfolgt wird (vgl. zu diesem Verständnis des religiösen Existenzminimums etwa BVerfG, Beschluss vom 1. Juli 1987 - 2 BvR 478, 962/86 -, BverfGE 76, 143 (158 ff.), und BVerwG, Urteil vom 20. Januar 2004 - 1 C 9.03 -, BverwGE 120, 16).

Asylrelevante Eingriffe sind vielmehr auch dann anzunehmen, wenn die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich in Gemeinschaft mit anderen mit einer Gefahr für Leben oder Freiheit verbunden ist. Das ergibt sich aus einer Auslegung von § 60 Abs. 1 AufenthG im Lichte von Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie. Nach dieser Bestimmung haben die Mitgliedsstaaten bei der Prüfung der Verfolgungsgründe zu berücksichtigen, dass der Begriff "Religion" insbesondere umfasst "die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten und öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen und Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf die religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind." Dieses Verständnis des Begriffs "Religion" bei der Prüfung von Verfolgungsgründen ergibt sich aus der nunmehr unmittelbar von den Gerichten anzuwendenden Richtlinie.

Das Gericht hält im Hinblick auf Art. 10 Abs. 1 b) der Richtlinie an der von der Rechtsprechung bislang vorgenommenen einschränkenden Auslegung des asylrechtlich geschützten Bereichs der Religion nicht mehr fest. Denn diese Bestimmung bezeichnet ausdrücklich die Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich und in Gemeinschaft mit anderen als integralen Bestandteil von Religion im Sinne des Asylrechts.

Nähmen die den Geboten ihrer christlichen Konfession verpflichteten Kläger nach einer Rückkehr in den Iran an öffentlichen christlichen Gottesdiensten teil, drohten ihnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante bzw. abschiebungsrelevante staatlich Zwangsmaßnahmen. Die Kammer bewertet die einschlägigen Erkenntnisse sachverständiger Stellen dahin gehend, dass konvertierte Muslime seit über zwei Jahren öffentliche christliche Gottesdienste nicht mehr besuchen können, ohne sich der Gefahr auszusetzen, festgenommen und möglicherweise unter konstruierten Vorwürfen zu Haftstrafen verurteilt zu werden. Zum Hintergrund dieser Entwicklung ist zunächst festhalten, dass die Hinwendung zum christlichen Glauben und die christliche Missionstätigkeit im Iran nicht deshalb verfolgt werden, weil die Ausübung der persönlichen Gewissensfreiheit und die rein persönliche, geistig-religiöse Entscheidung für einen anderen Glauben bekämpft werden soll. Bekämpft werden soll die Apostasie vielmehr, soweit sie als Angriff auf den Bestand der Islamischen Republik Iran gewertet werden kann. Der politische Machtanspruch der im Iran herrschenden Mullahs ist absolut. Dieser Machtanspruch ist religiös fundiert, d.h. die iranischen Machthaber verstehen die Ausübung der politischen Macht als gleichsam natürliche Konsequenz ihrer Religion. Deshalb ist - weil dies den Gesetzen des Islam entspricht - religiöse Toleranz der jüdischen und christlichen Religionsgemeinschaften nur solange vorgesehen, wie deren Angehörige sich dem unbedingten religiösen und politischen Herrschaftsanspruch unterwerfen. Ein Ausbreiten dieser (Buch-)Religionsgemeinschaften in das "muslimische Staatsvolk" hinein kann demgegenüber den im Iran bestehenden Führungsanspruch der Mullahs in Frage stellen. Letztere differenzieren nämlich nicht zwischen Politik und Religion und übertragen diese Gleichsetzung auf andere Religionsgemeinschaften, denen sie unterstellen, ebenfalls Politik im religiösen Gewande zu betreiben (DOI, Auskünfte vom 6. Dezember 2004 an das Sächs. OVG (585), vom 22. November 2004 an das VG Kassel (550), vom 11. Dezember 2003 an das VG Wiesbaden (494) und vom 20. Dezember 1996 an das VG Leipzig (181)).

Der Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG wegen der infolge der Konversion drohenden politischen Verfolgung steht vorliegend auch nicht die Bestimmung des § 28 Abs. 2 AsylVfG entgegen. Hiernach kann zwar bei Vorliegen subjektiver Nachfluchttatbestände die Feststellung, dass dem Ausländer die in § 60 Abs. 1 AufenthG bezeichneten Gefahren drohen, in einem Folgeverfahren in der Regel nicht mehr getroffen werden. Ungeachtet dessen, ob Art. 5 der Richtlinie eine weiter gehende restriktive Auslegung des § 28 Abs. 2 AsylVfG gebietet (vgl. VG Lüneburg, Urteile vom 22. September 2005 - 1 A 32/02 - und vom 24. Mai 2006 - 1 A 405/03 -, Juris, sowie Renner, Ausländerrecht, Kommentar 8. Aufl., § 28 Rn. 21 f., zuletzt auch BVerwG, Beschluss vom 4. Januar 2007 - 1 B 237/06 u.a. - (Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung dieser Rechtsfrage zugelassen)), sind im Falle der Kläger die Voraussetzungen erfüllt, unter denen diese Bestimmung auch im Folgeverfahren die Feststellung nach § 60 Abs. 1 AufenthG ermöglicht. § 28 Abs. 2 AsylVfG knüpft ersichtlich an die in Abs. 1 der Vorschrift - hinsichtlich der Asylberechtigung - getroffene Unterscheidung zwischen regelmäßig unbeachtlichen und ausnahmsweise beachtlichen subjektiven Nachfluchtgründen an und übernimmt die insoweit entwickelten Grundsätze für die Fälle, in denen über die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in einem Folgeverfahren zu entschieden ist (OVG NRW, Urteil vom 12. Juli 2005 - 8 A 780/04.A -, ZAR 2005, 422).

Hiernach ist ein Anspruch nach § 60 Abs. 1 AufenthG wegen im Folgeverfahren geltend gemachter subjektiver Nachfluchttatbestände insbesondere dann gegeben, wenn das die Verfolgungsgefahr auslösende Nachfluchtverhalten einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung entspricht. Hiermit soll verhindert werden, dass der Ausländer vom gesicherten Ort aus ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet erzwingt "risikolose Verfolgungsprovokation") (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26. November 1986, a.a.O.).

Davon kann im Falle der Kläger indessen nicht die Rede sein. Diese hatten sich vielmehr bereits im Iran von dem Islam, ihrer "angeborenen" Religion, abgewandt. Wie der Kläger zu 1. in der mündlichen Verhandlung geschildert hat, war er schon im Iran am Islam "verzweifelt", weil er den Eindruck hatte, keinen direkten Kontakt zu Gott zu haben. So sei die Neugier der Kläger am Christentum geweckt worden. Sie hätten an den christlichen Gottesdiensten der armenischen Freunde teilnehmen und mehr über deren Religion erfahren wollen.

Die in Deutschland vollendete Abwendung vom Islam und Hinwendung zu einer anderen Religion, dem Christentum, die durch die Kontakte zu dem persisch sprechenden Pfarrer ... und den Zugang zu christlichen Schriften in ihrer Heimatsprache erleichtert wurde, erscheint mithin als notwendige Konsequenz einer bereits im Iran vorhandenen, die eigene Identität prägenden und nach außen kundgegebenen Lebenshaltung. Insbesondere kann den Klägern nicht vorgehalten werden, er habe den Verfolgungstatbestand bewusst im Aufnahmeland risikolos geschaffen, ohne vor der Ausreise aus dem Heimatstaat eine entsprechende Einstellung besessen und gezeigt zu haben (so im Zusammenhang mit dem Übertritt eines Iraners vom Islam zum Christentum nach gewissenhafter Prüfung ausdrücklich auch Renner, a.a.O., § 28 AsylVfG Rn. 17).