VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 25.04.2007 - 2 E 1750/06.A - asyl.net: M10358
https://www.asyl.net/rsdb/M10358
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Hindu aus Afghanistan.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Hindus, Gruppenverfolgung, religiös motivierte Verfolgung, religiöses Existenzminimum, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Folgeantrag, neue Beweismittel, Änderung der Sachlage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Bst. b; AsylVfG § 71 Abs. 1; VwVfG § 51 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung für Hindu aus Afghanistan.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist im Hinblick auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG begründet, da der angefochtene Bescheid insoweit rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO). Im Hinblick auf die begehrte Asylanerkennung nach Artikel 16a Abs. 1 GG ist die Klage unbegründet.

Zunächst hat der Kläger das Vorliegen der Voraussetzungen des § 71 Abs. 1 S. 1 AsylVfG i. V. m. § 51 Abs. 1 bis Abs. 3 VwVfG dargetan.

Die neueren (zum Teil) in Bezug genommenen Gutachten zur Rückkehrsituation für Angehörige der hinduistischen Glaubensgemeinschaft, insbesondere das Gutachten von Dr. Danesch vom 23.01.2006, aber auch die Stellungnahme des Instituts für Orient- und Asienwissenschaften vom 25.01.2006 und auch eine Reihe neuerer Entscheidungen stützen die vom Kläger vertretene Annahme, dass einem Hindu im Falle seiner Rückkehr im heutigen Zeitpunkt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit massive Benachteiligungen und Misshandlungen von verschiedenen Gruppenangehörigen drohen, gegen die der afghanische Staat weder willens noch in der Lage ist, angemessenen Schutz zu gewähren. Von daher ist zugunsten des Klägers von einer nachträglich geänderten Sach- und Rechtslage im Hinblick auf eine Verschlechterung der Situation für Angehörige der hinduistischen Glaubensgemeinschaft auszugehen.

Insgesamt stellt sich die Situation für Angehörige der hinduistischen Glaubensgemeinschaft in Afghanistan als extrem schwierig dar.

In den letzten Jahren haben sich in der afghanischen Gesellschaft nämlich tiefgreifende Entwicklungen vollzogen, die auch Auswirkungen auf die Gefahrenlage für religiöse Minderheiten haben. In weiten Teilen des Landes ist es zu einem Erstarken der islamisch-fundamentalistischen Kräfte gekommen, welche insbesondere unter der einfachen bäuerlichen Bevölkerung auf eine breite Unterstützung treffen. Diese Tendenzen sind zunehmend auch in der Hauptstadt Kabul anzutreffen. Insoweit hat sich die Sicherheitslage für Hindus gravierend verändert; im heutigen Zeitpunkt muss davon ausgegangen werden, dass Hindus als sogenannte "Götzenanbeter" vermehrt mit menschenrechtswidrigen Übergriffen rechnen müssen, sofern sie sich zu ihrer Religion bekennen und diese nicht - so wie ihre Kultur und Herkunft - nach außen verleugnen. Besonders schwer trifft dies aus dem Ausland zurückkehrende Hindus (vgl. zu alledem: Gutachten des Dr. Danesch an VG Wiesbaden vom 23.01.2006, S. 28 ff.; Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand Mai 2006, S. 18 f. Kurzreferat des Instituts f. Orient- u. Asienwiss. (Hutter) vom 25.01.2006). Nach all den vorliegenden Quellen zur Situation der religiösen Minderheit der Hindus in Afghanistan sowie nach dem glaubhaften Vorbringen des Klägers ist das Gericht davon überzeugt, dass das religiöse Existenzminimum nicht gewährleistet ist, sondern vielmehr von an die Religionszugehörigkeit anknüpfenden nachhaltigen Benachteiligungen verschiedenster Art und Intensität auszugehen ist, die vom afghanischen Staat zumindest geduldet, wenn nicht gar toleriert wird. Keinesfalls ist die Religionsausübung im privaten und insbesondere öffentlichen Bereich, d. h. die Teilnahme an Riten in den entsprechenden Glaubensstätten mit anderen zusammen oder auch das Bekennen zur hinduistischen Religion und Kultur in der Öffentlichkeit in Afghanistan ohne massive Gefährdung durch andersgläubige Privatpersonen oder Gruppen möglich (vgl. zum Schutz der Religionsausübung § 60 Abs. 1 AufenthG i. V. m. Art. 10 der EU-Richtlinie 2004/83/EG). Die Benachteiligungen reichen von Zerstörungen der Tempelanlagen, Land- und Besitzentnahmen bis hin zu willkürlichen Festnahmen, die in der Regel ein Freikaufen gegen Geld zur Folge haben. Diese zu erwartenden Übergriffe entsprechen auch ihrer Qualität und Häufigkeit nach asylerheblichen Übergriffen von staatlichen oder quasi staatlichen Stellen. Dementsprechend gewähren auch eine Reihe von Gerichten in diesen Konstellationen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG (vgl. u. a. VG Sigmaringen, Urt. v. 09.10.2006 - A 2 K 10792/05; VG Wiesbaden, Urt. v. 17.02.2006 - 7 E 559/05 VG Köln, Urt. v. 10.01.2006 - 14 K 6506/03, sämtlichst aus JURIS).