VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 20.03.2007 - 1 K 2459/06.A - asyl.net: M10374
https://www.asyl.net/rsdb/M10374
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Änderung der Sachlage, Anerkennungsrichtlinie, Machtwechsel, Baath, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Sicherheitslage, Versorgungslage, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Abschiebungsstopp, Erlasslage
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

1. Die Voraussetzungen für einen Widerruf gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG liegen vor.

Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen, also insbesondere dann, wenn die Gefahr politischer Verfolgung im Herkunftsstaat nicht mehr besteht.

Dass darüber hinaus für einen Widerruf die Verhältnisse irr Herkunftsland stabil sein müssen, ergibt sich auch nicht aus der Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie), von deren unmittelbarer Anwendbarkeit das Gericht mangels einer fristgemäßen Umsetzung in das nationale Recht ausgeht. Inhaltlich führt die europäische Richtlinie zu keiner anderen Regelung als der in der GFK enthaltenen und daher zu keinem für die Kläger günstigeren Auslegungsergebnis der Widerrufsvorschrift (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15.02.2006 - 1 B 120/05 OVG Saarlouis, Urteil vom 29.09.2006 - 3 R 6.06 -; a.A. VG Köln, Urteil vom 21.09.2005 - 18 K 3217/04.A -).

Den Asylanerkennungen und den Feststellungen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Kläger lag die Erwägung zu Grunde, dass ihnen eine politische Verfolgung durch die damalige irakische Regierung drohte. Diese Gründe sind mit den veränderten politischen Gegebenheiten seit dem unumkehrbaren Sturz des Regimes Saddam Husseins entfallen.

II. Die Kläger haben des Weiteren auch keinen Anspruch auf die Feststellung, dass Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen. Von einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit der Kläger im Sinne des der Sache nach allein in Betracht kommenden § 60 Abs. 7 AufenthG kann nicht ausgegangen werden.

Da nach alledem nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Kläger individuell gesteigerten Gefährdungen bei einer Rückkehr in den Irak ausgesetzt wären, ist ihr Verpflichtungsbegehren allein anhand der allgemeinen Sicherheitslage im Irak zu beurteilen. Solche allgemeinen Gefahren wären im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aber nur dann berücksichtigungsfähig, wenn die Sicherheitslage als so zugespitzt betrachtet werden müsste, dass jede Abschiebung den Rückkehrer gleichsam sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde. Nur in diesem Fall wäre aus verfassungsrechtlichen Gründen bei der Entscheidung über das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses auch eine allgemeine Gefährdungslage zu berücksichtigen. Dies kann insbesondere in Bürgerkriegsregionen der Fall sein (vgl. zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG: BVerwG, Urteil vom 12.07.2001 - 1 C 2.01 -; DVBI. 2001, 1531 m.w.N.; OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 16.02.2004 - 8 A 10334/04 -; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 30.10.2003 - 1 LB 39103 -; Bayerischer VGH, Urteil vom 13.11.2003 - 15 B 02.31751).

Eine bürgerkriegsähnliche Bedrohungssituation ist im Irak im Übrigen derzeit aber zumindest landesweit nicht festzustellen.

Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass sich Anschläge und Übergriffe vornehmlich auf den Zentralirak konzentrieren und ihr wesentliches Ziel Mitglieder der internationalen Truppe, Ausländer sowie irakisches Sicherheitspersonal, das mit ihnen zusammenarbeitet, sind. Hohe Opferzahlen unter Unbeteiligten werden dabei jedoch zumindest billigend in Kauf genommen. Dagegen ist die Situation im Süd- und Nordirak vergleichsweise ruhig, insbesondere die kurdischen Gebiete des Nordens sind von den Kriegsfolgen bisher weitgehend unberührt geblieben. Eine bürgerkriegsähnliche Bedrohungslage besteht insoweit jedenfalls nicht, sodass den Klägern eine Rückkehr in diesen Teil des Landes zugemutet werden kann.

Das Gericht verkennt dabei nicht, dass die Sicherheitslage im Irak nach wie vor sehr gespannt ist und die nahezu täglich stattfindenden bewaffneten Angriffe zu einer erheblichen Gefährdung der Zivilbevölkerung führen. Derartige Gewaltaktionen sind jedoch - falls sie überhaupt politisch genannt werden können - lokal begrenzte Ereignisse, die die Kläger nicht konkret und mit hoher Wahrscheinlichkeit, sondern quasi "blind" träfen. Dies vermag ein aus den Grundrechten abgeleitetes Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG jedoch nicht zu begründen.

Nach den vorliegenden Erkenntnissen kann auch im Hinblick auf die Versorgungslage nicht von einer existenziellen Gefährdung einzelner Rückkehrer ausgegangen werden. Wie dargestellt, führt das irakische Handelsministerium noch immer die Verteilung von Nahrungsmitteln durch (vgl. Gutachten des DOI vom 01.10.2003, erstattet für das OVG Schleswig; Berichte des Auswärtigen Amtes vom 10.06.2005 und vom 06.11.2003 und 02.11.2004; Stellungnahme des UNHCR zur Rückkehrgefährdung irakischer Schutzsuchender von November 2003 und August 2004).

Unabhängig davon scheidet die Feststellung von Abschiebungsverboten auch wegen eines bestehenden anderweitigen Schutzes vor Abschiebung aus.

Hierzu zählt insbesondere ein faktischer Abschiebestopp, der für den Irak auf Grund der Beschlusslage der Innenministerkonferenz vom 15.05.2003 (zuletzt bestätigt durch den Beschluss der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren vom 05.05.2006 - eingeschränkt für straffällig gewordene irakische Staatsangehörige durch Beschluss vorn 16.117.11.2006 -) besteht. Eine Änderung dieser Beschlusslage ist derzeit auch nicht absehbar.