VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 16.04.2007 - 9 K 3740/06.A - asyl.net: M10375
https://www.asyl.net/rsdb/M10375
Leitsatz:
Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Frauen, Flüchtlingsfrauen, alleinstehende Frauen, alleinerziehende Frauen, Situation bei Rückkehr, Versorgungslage, Wohnraum, Existenzminimum, Übergriffe, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Abschiebungsstopp, Erlasslage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die danach noch anhängige Klage auf Verpflichtung der Beklagte festzustellen, dass die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (i.V.m. Artikel 15 c der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004) vorliegen, ist begründet.

Allerdings erfasst § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur einzelfallbezogene, individuell bestimmte Gefährdungssituationen. Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden bei Entscheidungen nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG berücksichtigt (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Mit Blick auf Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist der Rückgriff auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG jedoch bei einer allgemeinen Gefahr dann nicht gesperrt, wenn die Situation im Zielstaat der Abschiebung so extrem ist, dass die Abschiebung den Einzelnen "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde" (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. März 1996 - 9 C 116.95 -, a.a.O., zu § 53 Abs. 6 AuslG) und gleichwertiger Schutz vor Abschiebung nicht anderweitig durch eine erfolgte Einzelfallregelung oder durch einen Erlass vermittelt wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. Juli 2001 - 1 C 2.01 -, NVwZ 2001, 1420, zu § 53 Abs. 6 AuslG).

Ein entsprechender Schutz für die Klägerinnen kann hier nicht festgestellt werden. Insbesondere können sie sich nicht auf den Erlass des Innenministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen vom 3. April 2007 (15-39.08.02-1) berufen, da sie sich nicht seit mindestens sechs Jahren vor dem Stichtag (1. Juli 2007) der geplanten neuen Altfallregelung ununterbrochen geduldet im Bundesgebiet aufgehalten haben, sondern erst am 20. Juli 2001 eingereist sind.

Eine individuelle, gerade in ihren persönlichen Eigenschaften und Verhältnissen angelegte Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit droht den Klägerinnen nicht. Die von ihnen geltend gemachten Gefahren für Leib und Leben sind vielmehr allgemeiner Art im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG; denn diesen Gefahren ist die gesamte Gruppe der alleinstehenden Frauen und Mädchen in Afghanistan gleichermaßen ausgesetzt.

Die danach bestehende "Sperrwirkung" des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ist hier aber durchbrochen, weil davon auszugehen ist, dass die Klägerinnen bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer extremen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt sein werden, wenn sie sich dort nach Kabul begeben.

Witwen und andere unbegleitete Frauen, die nach Afghanistan zurückkehren und von ihren Familien nicht unterstützt werden oder nicht ausreichend unterstützt und geschützt werden können, haben keine Möglichkeiten, sich ohne bzw. außerhalb der Familien eine Lebensperspektive zu entwickeln (vgl. dazu Veronika Arendt-Rojahn u.a.. Rückkehr nach Afghanistan. Juni 2006 - im Folgenden: Arendt-Rojahn -, S. 12; UNHCR in Informationsverbund Asyl e.V. (Hrsg.), Zur Lage in Afghanistan - im Folgenden: Informationsverbund Asyl S. 29).

Sie finden zunächst schon keine Unterkunft. Eine Frau kann sich allein oder mit anderen Frauen keine Wohnung mieten. Das liegt nach den afghanischen Verhältnissen außerhalb des Vorstellbaren (Arendt-Rojahn, S. 12).

Zwar gibt es in Kabul einige von NGOs getragene Frauenhäuser, der dort gewährte Aufenthalt ist aber, unter anderem aus Kapazitätsgründen, zeitlich eng beschränkt (UNHCR in Informationsverbund Asyl, S. 30).

Eine dauerhaft Bleibe könnten die Klägerinnen dort also nicht finden. Darüber hinaus gelten dieser Häuser wohl als Hurenhäuser (vgl. Arendt-Rojahn, S. 12).

Selbst wenn es den Klägerinnen gelänge, irgendwo eine Unterkunft zu finden, wären sie nicht in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Arbeitsmöglichkeiten gibt es für die Masse der Frauen (vgl. zu wenigen hochqualifizierten Afghaninnen, die für die Regierung tätig sind, Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 13. Juli 2006 - im Folgenden: Lagebericht -, S. 22) noch weniger als für Männer. Da abhängige Lohnarbeit in der Regel aus Tätigkeiten in der Öffentlichkeit besteht und Frauen sich allein nach wie vor nicht ungefährdet in der Öffentlichkeit bewegen können (vgl. dazu Arendt-Rojahn, S. 9), ist die Lohnarbeit noch stärker Männern vorbehalten als andere Arbeitsformen (Panhölzl in Informationsverbund Asyl, S. 13).

Schließlich wären die Klägerinnen als unbegleitete Frauen einem besonderen Gewaltrisiko und der Willkür der auf sie treffenden Männer ausgesetzt, ohne bei einer Verletzung ihrer Rechte staatlichen Schutz erlangen zu können (vgl. dazu Lagebericht, S. 21).