VG München

Merkliste
Zitieren als:
VG München, Urteil vom 11.10.2006 - M 23 K 05.1637 - asyl.net: M10415
https://www.asyl.net/rsdb/M10415
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Wirkungen der Ausweisung, Sperrwirkung, Befristung, Ermessen, langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige, Spezialprävention, Generalprävention, Anwendungszeitpunkt
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3; RL 2003/109/EG Art. 4 Abs. 1; RL 2003/109/EG Art. 12; RL 2003/109/EG Art. 14
Auszüge:

Soweit die zulässige Klage aufrechterhalten wurde, ist sie begründet (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Maßgeblich ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.

Der Europäische Gerichtshof hat in seinen Entscheidungen zu der Frage, wie weit der Ausweisungsschutz von Freizügigkeitsberechtigten reicht, die Auffassung vertreten, dass auch Entwicklungen nach dem Erlass der letzten Behördenentscheidung berücksichtigt werden müssen (vgl. EuGH, Urt. v. 29.4.2004, EuGRZ 2004 S. 422, 427, RdNr. 82 - Orfanopoulos und Oliveri). Zwar ist der dortige Sachverhalt insofern von dem hier vorliegenden zu unterscheiden, als es sich bei den damaligen Klägern um Unionsbürger und nicht - wie hier - um einen Drittstaatsangehörigen handelte. Diese Rechtsprechung ist jedoch verallgemeinernd dahin zu verstehen, dass in Fällen, in denen sich zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die Frage stellt, ob einer Ausweisung (oder auch der Aufrechterhaltung ihrer Sperrwirkung) die Freizügigkeitsregelungen des Gemeinschaftsrechts entgegen stehen, grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung selbst und nicht auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung abzustellen ist (vgl. dazu auch BVerwG, Urt. v. 3.8.2004, 1 C 30.02, NVwZ 2005, 220 ff.). Zum andern kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Kläger unter Berufung auf die Richtlinie 2003/109/EG des Rates betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen das ausgeübte Befristungsermessen des Beklagten sowohl im Sinne eines Voluntativ- wie Kognitivermessens verneint. Da der Kläger demzufolge mit dem Abstellen auf die gemeinschaftsrechtliche Freizügigkeit gerade begründen will, dass sich das Befristungsermessen des Beklagten entsprechend reduziert hat, ist auch nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts maßgeblich, ob der Kläger zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung gemeinschaftsrechtliche Freizügigkeit genießt oder nicht (vgl. dazu BVerwG NVwZ 2005, 220 ff.).

Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG sind erfüllt.

Nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG steht der Zeitpunkt der im Regelfall gebotenen Befristung der Sperrwirkungen zwar grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Beklagten. Dabei trifft das Gesetz keine Aussage zum zeitlichen Umfang der Sperrwirkung und zu den Gesichtspunkten, die bei der Bemessung der Frist zu berücksichtigen sind. Bei der Ausübung des insoweit nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG eröffneten Ermessens haben sich jedoch die Ausländerbehörden - soweit nicht das Gemeinschaftsrecht andere Maßstäbe vorgibt - von den folgenden rechtlichen Grundsätzen leiten zu lassen:

Die Ausweisung verfolgt den Zweck, die Allgemeinheit vor dem Ausländer wegen der Gefahr einer Wiederholung bzw. Fortdauer der Ausweisungsgründe zu schützen (Spezialprävention) und - soweit rechtlich zulässig - andere Ausländer von der Verwirklichung der Ausweisungsgründe abzuschrecken (Generalprävention). Die Dauer der Sperrwirkung ist danach zu bestimmen, wann der Ausweisungszweck bzw. die Ausweisungszwecke voraussichtlich erreicht sein wird bzw. sein werden. Die Sperrwirkung darf nur so lange bestehen, wie es diese ordnungsrechtlichen Zwecke im Einzelfall erfordern. Sind diese Zwecke bereits sämtlich erreicht, so ist es nicht länger gerechtfertigt, die Sperrwirkungen aufrecht zu erhalten (BVerwG, Urt. v. 11.8.2000, BVerwGE 111, 369 = InfAuslR 2000, 483; VGH Mannheim, Urt. v. 26.3.2003, InfAuslR 2003, 333, 336).

Vorliegend ist das nach § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG auszuübende Ermessen schon wegen der zu beachtenden Vorgaben des Gemeinschaftsrechts dahin reduziert, dass der Beklagte zu verpflichten ist, die Sperrwirkungen auf den 24. Januar 2006 zu befristen.

Mit der Richtlinie 2003/109/EG des Rates der Europäischen Union vom 25. November 2003 (ABl. EG 2004 L 16, S. 44) wird das Ziel verfolgt, die Rechtsstellung von Drittstaatsangehörigen an diejenige der Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten anzunähern und einer Person, die einen langfristigen Aufenthaltstitel besitzt, im jeweiligen Mitgliedsstaat eine Reihe einheitlicher Rechte zu gewähren (Art. 1, 4 Abs. 1 der Richtlinie). Die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten knüpft grundsätzlich an einen fünfjährigen ununterbrochenen rechtmäßigen Aufenthalt an (Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie). Diese Voraussetzungen liegen beim Kläger vor. Er hält sich seit nunmehr über zehn Jahren rechtmäßig im Gebiet der Republik Italien auf und erhielt erstmals am 27. Mai 1996 eine Aufenthaltserlaubnis für Ausländer, die in Rom ausgestellt und in der Folgezeit regelmäßig verlängert wurde. Seit dem 17. Juni 2005 verfügt der Kläger über eine unbegrenzte Aufenthaltserlaubnis (Carta di Soggiorno per Stranieri, a tempo indeterminato, Blatt 275 des Behördenakts). Als Drittstaatsangehörigen mit unbefristetem Aufenthaltstitel könnte dem Kläger die mit einer Ausweisung verbundene Sperrwirkung nur entgegengehalten werden, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellen würde (Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG). Es liegt jedoch auf der Hand, dass mit Blick auf das in Art. 14 der Richtlinie 2003/109/EG normierte Recht, sich (sogar) länger als drei Monate im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedsstaaten aufzuhalten, eine Störung der öffentlichen Ordnung im Sinne der Richtlinie wegen des Verstoßes gegen aufenthaltsrechtlich relevante Bestimmungen des nationalen Rechts durch Einreise des nicht vorbestraften und seinen Lebensunterhalt verdienenden Klägers in das Bundesgebiet nicht gegeben sein kann.

Unerheblich ist, dass die Richtlinie 2003/110/EG noch nicht in nationales Recht umgesetzt wurde. Die Frist zu ihrer Umsetzung lief gemäß Art. 26 Satz 1 der Richtlinie bereits am 23. Januar 2006 ab. Damit entfaltet die Richtlinie 2003/109/EG unmittelbare Wirkung mit der Folge, dass sich der Kläger auf Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie berufen kann (vgl. EuGH, Urt. v. 5.4.1979/Rs. 148/78 - (Ratti), Slg. 1979, 1629 (1645),v.10.11.1992 - RS. C - 156/91 - (Hansafleisch), Slg. I 1992, 5567 (5595) und v. 3.3.1994 - Rs. C - 316/93 - (Vaneetfeld), Slg. I 1994, 763 (784)).

Es ist demzufolge gemeinschaftsrechtlich nicht gerechtfertigt, dem durch die Richtlinie 2003/109/EG privilegierten Kläger vom Bundesgebiet fernzuhalten, wenn er seinerzeit wegen vergleichsweise geringfügiger Rechtsverstöße ausgewiesen wurde, von ihm aber nach den materiellen Kriterien der Richtlinie 2003/109/EG keine Gefahr ausgehen kann, welche die von dem Beklagten festgelegte Befristungsdauer der Sperrwirkung unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Sicherheit und Ordnung rechtfertigen könnte.