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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 22.03.2007 - 1 B 97.06 - asyl.net: M10423
https://www.asyl.net/rsdb/M10423
Leitsatz:

Eine inländische Fluchtalternative ist unzumutbar, wenn der Ausländer das Gebiet erst nach Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit erreichen kann (hier: Berg-Karabach).

 

Schlagwörter: Revisionsverfahren, Verfahrensmangel, Begründung, Begründungsmangel, Divergenzrüge, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Aserbaidschan, Armenien, Berg-Karabach, grundsätzliche Bedeutung, Erreichbarkeit, Staatsangehörigkeit, Ausbürgerung, Einreiseverbot, anderweitige Verfolgungssicherheit
Normen: VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 3; VwGO § 108 Abs. 1 S. 2; AufenthG § 60 Abs. 1; VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 1; VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 2; RL 2004/83/EG Art. 8
Auszüge:

Eine inländische Fluchtalternative ist unzumutbar, wenn der Ausländer das Gebiet erst nach Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit erreichen kann (hier: Berg-Karabach).

(Leitsatz der Redaktion)

 

2. Die Beschwerde des beteiligten Bundesbeauftragten hat hingegen mit einer Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) Erfolg. Er rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht seiner Begründungspflicht nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Frage einer den Verfolgungsschutz ausschließenden Sicherheit der Klägerinnen in der Russischen Föderation nicht nachgekommen ist (s.u. 2 c): Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der Möglichkeit Gebrauch, den Rechtsstreit gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Demgegenüber greifen die vom Bundesbeauftragten erhobenen Divergenz- und Grundsatzrügen nicht durch (s.u. 2 a, b).

a) Was die erste Divergenzrüge angeht, könnte das Berufungsgericht zwar dahingehend verstanden werden, dass es für die Flüchtlingsstellung nach § 60 Abs. 1 AufenthG unerheblich sei, ob der Flüchtling anderweitig Schutz vor politischer Verfolgung gefunden habe. Denn es vertritt die Rechtsauffassung, dass nach der Genfer Flüchtlingskonvention und dem nationalen Recht es Sache des Flüchtlings sei, den Zielstaat seiner Flucht zu bestimmen; es sei "nur für die Anerkennung als Asylberechtigter erheblich, ob ein Flüchtling aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist oder auf der Flucht anderweitig Sicherheit vor Verfolgung gefunden hat" (UA S. 13). Diese Auffassung steht im Widerspruch zu dem vom Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 8. Februar 2005 - BVerwG 1 C 29.03 - (BVerwGE 122, 376 <387>) aufgestellten Rechtssatz, dass der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes eine Anerkennung als Flüchtling im Sinne von § 51 Abs. 1 AuslG (heute: § 60 Abs. 1 AufenthG) ausschließt, wenn der Flüchtling bereits ausreichende Sicherheit vor Verfolgung in einem anderen Staat gefunden hat. Darauf kommt es hier indessen nicht an, da sich der Beschwerde nicht entnehmen lässt, dass die Entscheidung des Berufungsgerichts auf dieser Divergenz beruht. Denn der genannte Rechtssatz dient dem Berufungsgericht lediglich zur Begründung der Aussage, dass den Klägerinnen die Flüchtlingsanerkennung nicht unter Hinweis darauf verwehrt werden dürfe, dass sie Zuflucht in Armenien oder Berg-Karabach finden könnten, aber bisher nicht gefunden haben (UA S.13). Er dient hingegen nicht als Begründung dazu, dass ein möglicherweise in der Russischen Föderation erlangter Schutz der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht entgegenstehe.

Mit seiner zweiten Divergenzrüge hat der Bundesbeauftragte schon keinen Rechtssatz bezeichnet, der der berufungsgerichtlichen Entscheidung in dieser Allgemeinheit zu entnehmen wäre. Soweit dem Berufungsurteil allerdings die Rechtsauffassung zugrunde liegen sollte, dass die Klägerinnen wegen eines Wahlrechts bezüglich des Ziel- bzw. Schutzstaates von vornherein nicht auf die Möglichkeit einer inländischen Fluchtalternative in Berg-Karabach verwiesen werden können, wäre dies mit den bisher in der Rechtsprechung zur inländischen Fluchtalternative entwickelten Grundsätzen nicht vereinbar. Eine zumutbare inländische Fluchtalternative schließt grundsätzlich die Möglichkeit der Flüchtlingsanerkennung aus (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Juli 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 - BVerfGE 80, 315 <342 f.>; BVerwG, Urteil vom 8. Dezember 1998 - BVerwG 9 C 17.98 - BVerwGE 108, 84 <89 f.>). Das Urteil würde allerdings nicht auf dieser Abweichung beruhen, weil Berg-Karabach - wie noch auszuführen ist (unter 2 b) - auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts für die Klägerinnen nicht zumutbar zu erreichen ist.

b) Die erste aufgeworfene Frage bezieht sich darauf, ob eine inländische Fluchtalternative bei bestimmten Arten von Verfolgungshandlungen nicht greifen kann mit der Folge, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG anzunehmen ist. Auf diese Frage kommt es deshalb nicht an, weil das Berufungsgericht festgestellt hat, dass die Einreise nach Berg-Karabach als Ort einer möglichen (inländischen) Fluchtalternative nur - wenn überhaupt - von Armenien aus möglich ist und dort zunächst den Erwerb der armenischen Staatsangehörigkeit oder die Stellung eines Asylantrags voraussetzt. Das ist den Klägerinnen aber nicht zumutbar. Ein Asylsuchender kann nach der Rechtsprechung nur dann auf das Gebiet einer inländischen Fluchtalternative verwiesen werden, wenn dieses zumutbar erreichbar ist (Urteil vom 16. Januar 2001 - BVerwG 9 C 16.00 - BVerwGE 112, 345). Zwar ist es für einen Asylsuchenden nicht generell unzumutbar, in das Zufluchtsgebiet im Wege des Transits durch einen anderen Staat und erforderlichenfalls mit Hilfe dort zu beschaffender Transitpapiere einzureisen. Es ist hingegen nicht zumutbar, auf ein Gebiet verwiesen zu werden, das der Ausländer erst nach Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit oder des Flüchtlingsstatus in einem Drittstaat erreichen kann. Der Verweis des Flüchtlings darauf, eine Fluchtalternative innerhalb seines Herkunftslandes in Anspruch zu nehmen, bevor er Schutz durch einen Staat der internationalen Staatengemeinschaft in Anspruch nehmen kann, ist eine Ausprägung des Grundsatzes der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gilt der Grundsatz der Subsidiarität des Konventionsschutzes aber nur im Verhältnis zum Schutz durch den Staat oder die Staaten der Staatsangehörigkeit der Betroffenen - bei Staatenlosen im Verhältnis zum Staat des gewöhnlichen Aufenthalts - wie auch im Verhältnis zum einmal erlangten Schutz in einem anderen Staat (vgl. Urteil vom 8. Februar 2005, a.a.O.). Demgemäß darf ein Schutzsuchender nicht darauf verwiesen werden, in einem sonstigen Drittland (hier: Armenien) zunächst die dortige Staatsangehörigkeit oder den Flüchtlingsstatus zu erwerben, um anschließend ein inländisches Zufluchtsgebiet zu erreichen.

Allerdings bemerkt der Senat, dass die mit der ersten Grundsatzrüge (1) angesprochene (nicht entscheidungserhebliche) Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, bei aus asylerheblichen Gründen ausgebürgerten Flüchtlingen, denen außerdem die Wiedereinreise in ihr Herkunftsland verweigert werde, komme es nicht darauf an, ob ihnen eine zumutbare inländische Fluchtalternative offenstehe (UA S. 12), der bisherigen Rechtsprechung des Senats so nicht zu entnehmen ist. Zwar wird der Ausgebürgerte in der Regel, d.h. bei einem Verfolgerstaat mit uneingeschränkter Gebietsgewalt über sein Territorium, schon wegen der durch das Wiedereinreiseverbot bedingten Unerreichbarkeit des gesamten Staatsgebiets nicht auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen werden können. Sofern es sich bei dem als inländische Fluchtalternative in Betracht kommenden Teil des Herkunftsstaates aber um ein Gebiet handelt, in dem der Herkunftsstaat keine Gebietsgewalt mehr ausübt und in dem der Betroffene vor erneuter Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm auch keine asylgleichen sonstigen Gefahren drohen, ist auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung nicht ersichtlich, dass und aus welchen Gründen dieses Gebiet - seine Erreichbarkeit für den Betroffenen unterstellt - für aus politischen Gründen ausgebürgerte Staatsangehörige des Herkunftsstaats von vornherein als inländische Fluchtalternative ausscheiden sollte. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gilt der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes auch für staatenlose Flüchtlinge. Auch sie können den Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG grundsätzlich nicht in Anspruch nehmen, wenn ihnen eine zumutbare inländische Fluchtalternative im Staat ihres bisherigen gewöhnlichen Aufenthalts offensteht. Die in Art. 8 der Richtlinie 2004/83/EG eröffnete Möglichkeit, einen Flüchtling auf den "internen Schutz" in seinem Herkunftsland zu verweisen, ist ebenfalls nicht auf Staatsangehörige des Herkunftslandes beschränkt, sondern erfasst auch staatenlose Flüchtlinge.

c) Erfolg hat der Bundesbeauftragte aber mit der von ihm erhobenen Verfahrensrüge. Denn das Berufungsgericht ist seiner Begründungspflicht nach § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Frage einer den Verfolgungsschutz ausschließenden Sicherheit der Klägerinnen in der Russischen Föderation nicht nachgekommen.

Der Bundesbeauftragte rügt zu Recht, dass sich das Berufungsgericht in dem angegriffenen Urteil nicht mit dem (angeblichen) Aufenthalt der Klägerin zu 1 in der Russischen Föderation befasst und namentlich nicht begründet hat, weshalb dort keine anderweitige Verfolgungssicherheit bestand. In seinem Urteil vom 8. Februar 2005 hat der Senat entschieden, dass ein Ausländer keinen Anspruch auf Anerkennung als Flüchtling nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG hat, wenn er in einem anderen Staat bereits Schutz vor politischer Verfolgung gefunden hat und diesen Schutz weiterhin erlangen kann (BVerwGE 122, 376, Leitsatz 2).