OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 06.12.2006 - 2 M 317/06 - asyl.net: M10441
https://www.asyl.net/rsdb/M10441
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Schutz von Ehe und Familie, Eltern-Kind-Verhältnis, Kleinkinder, Ermessen, Türkei, Türken, Wehrdienst, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2; GG Art. 6 Abs. 1; VwGO § 123
Auszüge:

Die gemäß § 146 Abs. 4 VwGO zulässige Beschwerde ist nicht begründet.

Das Verwaltungsgericht hat dem Antragsteller Abschiebungsschutz nach § 60a Abs. 2 AufenthG zugesprochen, weil es ihm nicht zugemutet werden dürfe, seine unter dem Schutz des Art 6 Abs. 1 GG stehenden familiären Beziehungen zu seiner Ehefrau und seiner drei Monate alten Tochter durch eine Ausreise zu unterbrechen. Die hiergegen vorgebrachten Gründe, auf deren Prüfung das Oberverwaltungsgericht nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigen nicht die Abänderung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung.

Die Antragsgegnerin macht ohne Erfolg geltend, das Verwaltungsgericht sei nicht befugt gewesen, eine eigene Ermessensentscheidung zu treffen und sich damit an die Stelle der Behörde zu setzen, zumal eine Ermessensreduzierung auf Null nicht vorgelegen habe. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO hängt davon ab, ob der Antragsteller einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht hat. Liegen diese Voraussetzungen vor, ist die einstweilige Anordnung zu erlassen, wobei das Gericht nur hinsichtlich des "Wie", nicht aber hinsichtlich des "Ob" der einstweiligen Anordnung einen Ermessensspielraum hat (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. § 123 RdNr. 23 u. 28). Ein eigenes Ermessen hat das Verwaltungsgericht insoweit auch nicht ausgeübt, sondern es hat lediglich die Voraussetzungen des § 123 VwGO bejaht und - als Folge daraus - die angefochtene einstweilige Anordnung erlassen. Abgesehen davon hängt auch der streitgegenständliche materielle Anspruch nicht von einer Ermessensentscheidung ab; denn nach § 60 a Abs. 2 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Bejaht man - wie hier das Verwaltungsgericht - eine solche rechtliche Unmöglichkeit, bleibt für Ermessenserwägungen kein Raum mehr. Nicht verwehrt, sondern im Rahmen ihrer Prüfungspflicht auferlegt ist es den Gerichten allerdings, bei der Auslegung und Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe - hier insbesondere des Begriffs der "Zumutbarkeit" - die zu berücksichtigenden Interessen selbst abzuwägen.

Bei der Vornahme dieser Abwägung hat das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen, dass es dem Antragsteller derzeit nicht zuzumuten ist, auch nur vorübergehend von seiner Familie getrennt zu werden. Entgegen dem Beschwerdevorbringen hat der Antragsteller durchaus glaubhaft gemacht, dass seine Frau und sein Kind auf seine Betreuung und Unterstützung angewiesen sind. Insoweit ist vor allem zu berücksichtigen, dass ein noch sehr kleines Kind wie die derzeit 5 Monate alte Tochter des Antragstellers den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.01.2006, 2 BvR 1935/05 - NVwZ 2006, 682). Daher kann gerade bei einem kleinen Kind auch eine verhältnismäßig kurze Trennungszeit im Lichte von Art. 6 Abs. 2 GG schon unzumutbar lang sein (BVerfG, Beschl. v. 31.08.1999 - 2 BvR 1523/99 -, NVwZ 2000, 59). Im Übrigen hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 23.01.2006 (a. a. O.) nochmals betont, dass maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen sei, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit bestehe, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen sei; dabei sei zu berücksichtigen, dass bei einer Vater-Kind-Beziehung der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht durch Betreuungsleistungen der Mutter oder dritter Personen entbehrlich werde, sondern eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben könne (so auch OVG LSA, Beschl. v. 25.08.2006 - 2 M 228/06 - JURIS). Da der Antragsteller mit seiner Frau und seinem Kind in einem gemeinsamen Haushalt zusammen lebt, kann auch davon ausgegangen werden, dass tatsächlich eine solche persönliche Verbundenheit zwischen ihm und seiner Tochter besteht.

Vor diesem Hintergrund kann die Unzumutbarkeit einer Trennung auch nicht allein deshalb verneint werden, weil - wie die Antragsgegnerin geltend macht - sowohl die Mutter als auch das Kind gesund sind und die Mutter mit (materieller) Unterstützung durch ihre Familie rechnen kann. Gleiches gilt hinsichtlich des Umstandes, dass der Antragsteller inzwischen der türkischen Wehrpflicht unterliegt. Das Interesse an der alsbaldigen Erfüllung dieser Wehrpflicht mag ein Gesichtspunkt sein, der bei der Prüfung der Zumutbarkeit (auch) zu Lasten des Antragstellers berücksichtigungsfähig ist. Andererseits spricht es insoweit aber auch zu seinen Gunsten, dass die Ableistung des Wehrdienstes in der Türkei geraume Zeit in Anspruch nimmt und damit für den Antragsteller eine entsprechend lange Trennung von seiner Familie mit sich brächte. Insoweit ist dem Verwaltungsgericht darin zuzustimmen, dass das Interesse an der Erfüllung der Wehrpflicht des Antragstellers derzeit jedenfalls nicht höher zu bewerten ist als sein nach Art. 6 GG geschütztes Interesse an der Aufrechterhaltung seiner familiären Lebensgemeinschaft mit seiner Frau und seinem Kind.