LSG Hessen

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Zitieren als:
LSG Hessen, Beschluss vom 24.05.2007 - L 7 AY 13/06 ER - asyl.net: M10457
https://www.asyl.net/rsdb/M10457
Leitsatz:

Leistungen nach § 2 AsylbLG bei Duldung nach Bleiberechtsregelung.

 

Schlagwörter: D (A), Asylbewerberleistungsgesetz, Aufenthaltsdauer, Rechtsmissbrauch, freiwillige Ausreise, Zumutbarkeit, Integration, Privatleben, Lebensunterhalt, Bleiberechtsregelung, Duldung, Arbeitssuche, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung, Eilbedürftigkeit
Normen: SGG § 86b Abs. 2; AsylbLG § 2 Abs. 1; EMRK Art. 8
Auszüge:

Leistungen nach § 2 AsylbLG bei Duldung nach Bleiberechtsregelung.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Beschwerde ist im tenorierten Umfang begründet. Das SG hat zu Unrecht den Antrag der Antragsteller auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.

Der Senat geht zum einen davon aus, dass die Erfolgsaussichten der Klage im Hauptsacheverfahren mehr als offen, nämlich erheblich sind und zum anderen, dass dem Antragsteller ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung ein gegenwärtiger erheblicher Nachteil drohen würde, der nicht hinzunehmen ist.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (- BSG - Urteil vom 8. Februar 2007 - B 9 b AY 1/06 R), der sich der erkennende Senat anschließt, versteht § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz unter rechtsmissbräuchlicher Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer eine von der Rechtsordnung missbilligte, subjektiv vorwerfbare und zur Aufenthaltsverlängerung führende Nutzung der Rechtsposition, die ein Ausländer durch vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) erlangt hat. Darunter fällt auch der Verbleib eines Ausländers in Deutschland, dem es möglich und zumutbar wäre, auszureisen. Unzumutbar ist die Ausreise allerdings nicht erst bei zielstaatsbezogenen Gefahren für Freiheit, Leib oder Leben, also bei Abschiebungshindernissen im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG, die nach § 25 Abs. 3 AufenthG in der Regel sogar zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis führen. Auch weniger gewichtige Gründe können die Ausreise unzumutbar machen. Ein solcher Bleibegrund kann etwa auch die besondere Situation von Ausländern sein, denen sich Ausreisemöglichkeiten erst nach jahrelangem Aufenthalt in Deutschland eröffnen. Haben sie sich während dieser langen Zeit derart in die deutsche Gesellschaft und die hiesigen Lebensverhältnisse integriert, dass ihre Ausreise in das Herkunftsland etwa einer Auswanderung nahe kommt, so mag zwar das Aufenthaltsrecht darauf keine Rücksicht nehmen, falls es gelingt diese Ausländer eines Tages doch noch abzuschieben. Bis dahin wird dem Ausländer seine Nichtausreise leistungsrechtlich aber nicht vorwerfbar und der weitere - geduldete - Aufenthalt in Deutschland deshalb nicht rechtsmissbräuchlich sein.

Im vorliegenden summarischen Verfahren ist davon auszugehen, dass die Antragsteller sich in einer Weise in die deutsche Gesellschaft und deren Lebensverhältnisse integriert haben, dass ihnen eine Ausreise in ihr Herkunftsland nicht zuzumuten ist. Die Antragsteller zu 1. und 2. befinden sich zumindest seit 1994 (die Antragstellerin zu 2. sogar seit 1992) und damit seit über 12 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Die Antragsteller zu 3. und 4. sind in diesem Land geboren, sie besuchen die hiesige Schule bzw. den Kindergarten und es spricht nichts dafür, dass sie noch eine tragfähige Beziehung zum Heimatland ihrer Eltern entwickelt haben. Ist aber den Antragstellern zu 3. und 4. die Ausreise unzumutbar, so können sich auch die Antragsteller zu 1. und 2. darauf berufen, weil es ihnen nicht zuzumuten ist, ihre minderjährigen Kinder in Deutschland zurückzulassen bzw. sie zu einem unzumutbaren Wechsel nach Bosnien-Herzegowina zu zwingen (vgl. BSG a.a.O.).

Für eine Integration der Antragsteller spricht darüber hinaus, dass sie unter die Bleiberechtsregelung der IMK vom 17. November 2006 fallen. Mit dieser Regelung sollte nämlich, wie die Antragsteller zutreffend ausgeführt haben, für all diejenigen ausländischen Staatsangehörigen ein Bleiberecht geschaffen werden, die faktisch und wirtschaftlich im Bundesgebiet integriert sind. Zwar weist die Antragsgegnerin zutreffend darauf hin, dass die Antragsteller nicht unter die Ziffer 3.2.1. des Bleiberechtsbeschlusses vom 17. November 2006 fallen, weil sie - am Tag des IMK-Beschlusses - den Lebensunterhalt der Familie nicht durch eigene legale Erwerbstätigkeit ohne Inanspruchnahme von Sozialleistungen sichern konnten. Jedoch bestimmt Ziffer 3.2.2. u.a., dass Ausnahmen zugelassen werden (können) bei Familien mit Kindern. die nur vorübergehend auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen sind. Zu Recht haben die Antragsteller diesbezüglich auf das Protokoll der Dienstbesprechung zwischen den Regierungspräsidien und dem Hessischen Ministerium des Innern vom 29. Januar 2007 verwiesen, wonach das Merkmal des vorübergehenden Bezugs ergänzender Sozialleistungen großzügig auszulegen ist. Dem Betroffenen soll danach die Möglichkeit gegeben werden, zumindest innerhalb der nächsten zwei Jahre, ein den Lebensunterhalt sicherndes Einkommen (ohne vorübergehenden Bezug staatlicher Sozialleistungen) zu erreichen. Diese Möglichkeit ist auch dem Antragsteller zu 1. eröffnet. Zudem hat die IMK im Beschluss vom 17. November 2006 unter Ziffer 9 geregelt, dass von der Bleiberechtsreglung eigentlich Begünstigte, die aber die Voraussetzungen von Ziffer 3.2.1. nicht erfüllten, eine Duldung bis zum 30. September 2007 erhalten würden, um ihnen eine Arbeitsplatzsuche zu ermöglichen. Wenn sie - wie vorliegend der Antragsteller zu 1. - ein verbindliches Arbeitsangebot nachweisen würden, welches den Lebensunterhalt der Familie durch eigene legale Erwerbstätigkeit ohne Inanspruchnahme von Sozialleistungen sichere und zu erwarten sei, dass er auch in Zukunft gesichert sei, würden sie eine Aufenthaltserlaubnis erhalten.

Entgegen der Auffassung des SG können sich die Antragsteller auch auf einen Anordnungsgrund berufen. Da die - höheren - Leistungen entsprechend dem SGB XII nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz für Ausländer, die in Gesellschaft und Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland in gewissem Umfang integriert sind, existenzsichernd sind (insoweit reichen die niedrigeren Leistungen nach den §§ 3 ff. Asylbewerberleistungsgesetz allenfalls für nichtintegrierte Ausländer aus) können sie sich allein schon aus diesem Grunde auf eine besondere Notlage berufen, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht nur rechtfertigt, sondern gebietet. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn das Hauptsacheverfahren als offen zu bezeichnen wäre (vgl. auch Beschluss des erkennenden Senats vom 21. März 2007 - L 7 AY 14/06 ER). Davon kann vorliegend jedoch keine Rede sein.