VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 27.03.2007 - 10 K 1613/06.A - asyl.net: M10480
https://www.asyl.net/rsdb/M10480
Leitsatz:

Der Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 8 AufenthG wegen Handlungen gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen ist eng auszulegen; § 73 Abs. 2 AsylVfG berechtigt nicht zur Rücknahme einer Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung, die aufgrund eines rechtskräftigen Verpflichtungsurteils erfolgt ist.

 

Schlagwörter: Ägypten, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, Zukunftsprognose, Änderung der Sachlage, Beweislast, neue Beweismittel, Beweisnotstand, Rechtskraft, Prediger, Änderung der Rechtslage, schweres nichtpolitisches Verbrechen, Auslandsstraftaten, Ausschluss, Beurteilungszeitpunkt, Anfechtungsklage, Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen, Terrorismus, Terrorismusvorbehalt, Volksverhetzung, Rücknahme
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 8; VwGO § 121 Nr. 1; GFK Art. 1 F; RL 2004/83/EG Art. 12 Abs. 2 Bst. c; RL 2004/83/EG Art. 12 Abs. 3; StGB § 130; AsylVfG § 73 Abs. 2
Auszüge:

Der Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung nach § 60 Abs. 8 AufenthG wegen Handlungen gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen ist eng auszulegen; § 73 Abs. 2 AsylVfG berechtigt nicht zur Rücknahme einer Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung, die aufgrund eines rechtskräftigen Verpflichtungsurteils erfolgt ist.

(Leitsatz der Redaktion)

 

I. Das Bundesamt hat den angefochtenen Bescheid auf § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gestützt.

1. Zu betonen - weil für den Ausgang des vorliegenden Verfahrens mitentscheidend - ist, dass § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG eine nachträgliche Änderung der maßgeblichen Verhältnisse erfordert (vgl. BVerwG, Urteile vom 18. 7. 2006 - 1 C 15.05 -, NVwZ 2006, 1420 (Juris Rn. 16), vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 -, a.a.O. (Juris Rnrn. 17 und 31/32) und vom 19. September 2000 - 9 C 12.00 -, BVerwGE 112, 80 (Juris Rnrn. 7-11); Schäfer, a.a.O., § 73 Rn. 26 ff.; Marx, AsylVfG, 6. Auflage 2005, § 73 Rnrn. 60 und 62).

Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut der Norm, wonach die Anerkennung zu widerrufen ist, wenn die Voraussetzungen für sie "nicht mehr" vorliegen, darüber hinaus aber auch aus der Gesetzessystematik, der ratio legis sowie der Entstehungsgeschichte des § 73 AsylVfG (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. September 2000 - 9 C 12.00 -, a.a.O. (Juris Rn. 8-11) mit ausführlicher Begründung, der sich das erkennende Gericht anschließt).

Dabei ist von den tatsächlichen Verhältnissen zum Zeitpunkt der Anerkennung, nicht aber davon auszugehen, wie sich die Verhältnisse dem Bundesamt bzw. dem Verwaltungsgericht, das die Verpflichtung zur Anerkennung ausgesprochen hat, dargestellt haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. September 2000 - 9 C 12.00 -, a.a.O. (Juris Rn. 12)).

Dementsprechend liegen die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG nicht vor, wenn sich - und sei es aufgrund nachträglich bekannt gewordener bzw. nachträglich erstellter Erkenntnismittel - lediglich die Beurteilung der Verfolgungslage nachträglich ändert (vgl. BVerwG, Urteile vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 -, a.a.O. (Juris Rn. 17) sowie vom 19. September 2000 - 9 C 12.00 -, a.a.O. (Juris Rn. 8)), oder nachträglich Umstände bekannt werden, die bereits zum Zeitpunkt der Anerkennung vorlagen (so zu § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG), der zu § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG im Verhältnis lex generalis - lex specialis steht, VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 24. Februar 1992 - 1 S 1131/90 -, NVwZ-RR 1992, 602 (Juris Rn. 32); Sachs, in: Stelkens u.a., VwVfG, 6. Auflage 2001, § 49 Rn. 63; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 9. Auflage 2005, § 49 Rn. 45 -). Wird ein Anerkennungsbescheid widerrufen, den das Bundesamt - wie hier - in Erfüllung eines rechtskräftigen Verpflichtungsurteils erlassen hat, ist für die Beurteilung, ob eine Änderung der maßgeblichen Verhältnisse eingetreten ist, nicht auf den Zeitpunkt zurückzugreifen, zu dem der (Umsetzungs-)Bescheid, sondern auf denjenigen, zu dem das zur Anerkennung verpflichtende Urteil ergangen ist. Daraus folgt, dass entsprechend § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Tatsachengerichts bzw. - bei Entscheidungen ohne mündliche Verhandlung - auf die Verhältnisse im Zeitpunkt, in dem die Entscheidung gefällt wird, abzustellen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Mai 2003 - 1 C 15.02 -, BVerwGE 118, 174 (Juris Rn. 8); Schäfer, a.a.O., § 73 Rn. 40/41).

2. Den vorstehend dargestellten rechtlichen Maßstab zugrunde gelegt, fehlt es im vorliegenden Fall an einer nachträglichen Veränderung der zum Zeitpunkt der Anerkennung des Klägers maßgeblichen Verhältnisse.

b) Dass der Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 1 AufenthG erst nach ...... 19.. verwirklicht hat, lässt sich nicht feststellen.

Aus den wenigen Hinweisen in den aufgenommenen Predigten selbst, die die Übersetzer des Bundeskriminalamtes gefunden haben (vgl. Bl. 40 bis 63 der Beiakte 13, Bl. 2 ff. und 132 ff. der Beiakte 16) ergibt sich, dass die dem Kläger zugeschriebenen Predigten zwischen 19.. und 20.. gehalten wurden. Danach ist nur für einen kleinen Teil der dem Kläger zugeschriebenen Predigten (etwa 10) überhaupt ein Datum aus eben diesem Zeitraum bekannt; dagegen kann die weit überwiegende Anzahl dieser Predigten keinem Datum zugeordnet werden.

Dementsprechend stellt sich der Sachverhalt dem Gericht so dar, dass der Kläger - unterstellt, er hätte die Predigten mit dem aus den Übersetzungen hervorgehenden Inhalt gehalten - seit spätestens 19.. und damit auch schon vor ....... 19.. regelmäßig Hetzpredigten gehalten hat. Eine derartig kontinuierliche, bereits geraume Zeit vor der Anerkennung begonnene Tätigkeit stellt aber auch dann keine nachträgliche Änderung der maßgeblichen Verhältnisse dar, wenn sie nach der Anerkennung fortgeführt wird. Die Fortführung einer solchen Tätigkeit ist nicht als etwas Neues (= Änderung), sondern als "Bestätigung" einer bereits vor der Anerkennung bestehenden Gefährdung zu werten.

Ob etwas anderes dann gelten würde, wenn Hetzpredigten nach der Anerkennung in einem wesentlich größerem Umfang gehalten worden wären als zuvor (Quantitätssprung) oder sich der Inhalt der Predigten nach der Anerkennung deutlich verschärft hätte (Qualitätssprung), bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung. Es lässt sich nämlich nicht feststellen, dass ein solcher Fall hier gegeben ist. Der Umstand, dass die meisten der dem Kläger zugeschriebenen Predigten keinem Datum zugeordnet werden können, stärkt die Rechtsposition der Beklagten ebenfalls nicht: Nach den im Verwaltungsprozessrecht geltenden Grundsätzen über die materielle Beweislast geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache zu Lasten desjenigen Beteiligten, für den sich aus dieser Tatsache günstige Rechtsfolgen ergeben würden (vgl. BVerwG, Urteile vom 21. August 2003 - 2 C 14.02 -, BVerwGE 118, 370 (Juris Rn. 27), sowie vom 29. Juni 1999 - 9 C 36.98 -, BVerwGE 109, 174 (Juris Rn. 13)).

Daraus folgt, dass die Beklagte die materielle Beweislast hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG und damit auch dann trägt, wenn - wie hier - nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann, ob sich die maßgeblichen Verhältnisse nachträglich geändert haben.

Eine maßgebliche Änderung der Verhältnisse kann auch nicht darin erblickt werden, dass der Beklagten erst nach ..... 19.. Beweismittel bezüglich der dem Kläger zugeschriebenen Predigten in Form der im ..20.. beschlagnahmten Audiokassetten vorlagen. Allerdings soll bei Bestehen eines Beweisnotstandes die einem Beteiligten erst nach Abschluss des Vorprozesses eröffnete Möglichkeit der Beschaffung neuer Beweismittel einer Änderung der maßgeblichen Sachlage gleichstehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 21. September 1984 - 8 C 137.81 -, BVerwGE 70, 156 (Juris Rn. 12); ablehnend Clausing, in: Schoch u.a., VwGO, Stand: April 2006, § 121 Rn. 72, Fußnote 300).

Ob diese zur Durchbrechung der materiellen Rechtskraft (§ 121 VwGO) im Falle einer nachträglichen Änderung der Sachlage ergangene Entscheidung sich auf die hier zu entscheidende Frage, ob eine die Voraussetzungen des § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG erfüllende nachträgliche Änderung der maßgeblichen Verhältnisse vorliegt, übertragen lässt, mag dahinstehen. Denn jedenfalls ist weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich, dass die Beklagte sich zum Zeitpunkt der Entscheidung des VG P. vom .... 19.. bzw. des ..... Oberverwaltungsgerichts vom .... 19.. in einem Beweisnotstand befand.

ee) Schließlich hat das Bundesamt den Widerruf der Anerkennung des Klägers mit dessen weit verzweigten Kontakten innerhalb der islamistischen Szene in Deutschland und im Ausland begründet.

Der Umstand, dass das Bundesamt die zuletzt aufgeführten Kontakte nicht zur Begründung seiner Entscheidung herangezogen hat, steht ihrer Verwertung im vorliegenden Verfahren nicht entgegen. Aus § 113 Abs. 1 VwGO folgt die Verpflichtung des Gerichts zu prüfen, ob der angefochtene Verwaltungsakt (hier: der Widerruf der Anerkennung) mit dem objektiven Recht in Einklang steht. Dabei ist das Gericht zumindest bei Entscheidungen, die nicht im Ermessen der Behörde stehen, weder auf die von der Behörde zur Begründung herangezogenen Normen noch auf die von ihr zur Begründung herangezogenen Tatsachen beschränkt; vielmehr ist das Gericht zu einer umfassenden, alle einschlägigen Rechtsnormen und Tatsachen einbeziehenden Prüfung befugt und verpflichtet (§ 86 Abs. 1 VwGO) (vgl. BVerwG, Urteile vom 30. Juni 1989 - 4 C 40.88 -, BVerwGE 82, 185 (Juris Rn. 20) sowie vom 19. August 1988 - 8 C 29.87 -, BVerwGE 80, 96 (Juris Rn. 13); Gerhardt, in: Schoch u.a., a.a.O., § 113, Rn. 21).

Allerdings lässt sich auch bezüglich der vorstehend aufgeführten Kontakte - unterstellt, sie hätten so wie aus den vorliegenden Unterlagen ersichtlich bestanden - nicht feststellen, dass sich die maßgeblichen Verhältnisse nachträglich, nämlich nach .... 19.., geändert haben.

c) Die in § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG geregelten Ausschlusstatbestände tragen den Widerruf der Anerkennung des Klägers ebenfalls nicht. Allerdings liegt insoweit eine nachträgliche Änderung der Verhältnisse vor, weil eine § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG entsprechende Regelung (§ 53 Abs. 3 Satz 2 AuslG) erstmals am 1. Januar 2002 (vgl. Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus, BGBl. I (2002), S. 361), also nach ..... 19.., in Kraft trat. Insofern liegt zwar keine nachträgliche Änderung der Sach-, wohl aber eine nachträgliche Änderung der Rechtslage vor. Jedoch lässt sich nicht feststellen, dass der Kläger die Voraussetzungen eines der in § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG geregelten Ausschlusstatbestände erfüllt.

cc) Ausreichende Anhaltspunkte, die die Annahme rechtfertigen, dass der Kläger sich hat Handlungen zuschulden kommen lassen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen, fehlen ebenfalls.

Unter welchen Voraussetzungen eine Handlung "den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen" zuwiderläuft, hat der Gesetzgeber nicht weiter definiert. Der Gesetzeswortlaut ist insoweit wenig ergiebig. Der Regelungszusammenhang mit den beiden anderen Alternativen des § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG spricht dafür, dass unter diese Formulierung nur schwerste Verbrechen fallen: Alt. 1 erfasst Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Alt. 2 schwere nichtpolitische Verbrechen. Dieses sich aus der Gesetzessystematik ergebende Argument ird durch die Gesetzgebungsmaterialien bestätigt. Danach wollte der Gesetzgeber mit der Einfügung der § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG entsprechenden Regelung des § 51 Abs. 3 Satz 2 AuslG erreichen, dass "Ausländer, die aus schwerwiegenden Gründen schwerster Verbrechen verdächtig sind, nicht mehr die Rechtsstellung nach der Genfer Flüchtlingskonvention erhalten." (vgl. Bundestagsdrucksache (BT-Drs.) 14/7386 (neu), S. 57).

Darüber hinaus nehmen die Gesetzgebungsmaterialien auf die Resolutionen 1269 (1999) und 1373 (2001) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen Bezug. Ziffer 3 f) der Resolution 1373 des Sicherheitsrates vom 28. September 2001 fordert alle Staaten auf, "bevor sie einer Person Flüchtlingsstatus gewähren, .... geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um sich zu vergewissern, dass der Asylsuchende keine terroristischen Handlungen geplant oder erleichtert oder sich daran beteiligt hat."

Außerdem hat der Sicherheitsrat in Ziffer 5 seiner Resolution 1373 erklärt, dass "die Handlungen, Methoden und Praktiken des Terrorismus im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen stehen und dass die wissentliche Finanzierung und Planung terroristischer Handlungen sowie die Anstiftung dazu ebenfalls im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen stehen."

Diese Position hat der Sicherheitsrat in einer weiteren, erst nach Vorlage des Entwurfs des Terrorismusbekämpfungsgesetzes ergangenen Resolution vom 12. November 2001 (Resolution 1377) bekräftigt, indem er nochmals betont hat, dass "Akte des internationalen Terrorismus im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen stehen und dass die Finanzierung, Planung und Vorbereitung sowie jegliche andere Form der Unterstützung von Akten des internationalen Terrorismus ebenfalls im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Charta stehen."

Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers diente die durch das Terrorismusbekämpfungsgesetz erfolgte Ergänzung des § 51 Abs. 3 AuslG der Umsetzung der Resolutionen 1269 und 1377 (vgl. BTDrs. 14/7386 (neu), S. 57).

Dies spricht ebenfalls dafür, § 60 Abs. 8 Satz 2 Alt. 3 AufenthG entsprechend dieser restriktiven Kriterien, die eine unmittelbare Beteiligung an terroristischen Handlungen erfordern, auf schwerste Verbrechen zu beschränken (vgl. Marx, ZAR 2002, 127, 134).

In dieselbe Richtung geht der ebenfalls in den Gesetzgebungsmaterialien (a.a.O.) enthaltene Hinweis, wonach der Gesetzgeber bei der Ergänzung des § 51 Abs. 3 AuslG zusätzlich noch den Rechtsgedanken des Art. 1 F des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. 7. 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention; im folgenden: GFK) berücksichtigt hat. Gemäß Art. 1 F GFK finden deren Bestimmungen u.a. keine Anwendung auf Personen, in Bezug auf die aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass sie sich Handlungen zuschulden kommen ließen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen. Zu dieser mit § 60 Abs. 8 Satz 2 Alt. 3 AufenthG weitgehend wortgleichen Norm vertritt der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) die Auffassung, dass eine Berufung auf sie nur im Falle von Verbrechen, die den Weltfrieden, die internationale Sicherheit oder die friedlichen Beziehungen zwischen Staaten erschüttern können, oder im Falle schwerer, anhaltender Verletzungen der Menschenrechte in Betracht kommt (vgl. Ziffer 17 der Richtlinie des UNHCR zur Anwendung der Ausschlussklauseln in Art. 1 F GFK, abgedruckt in: ZAR 2004, 207).

Schließlich ist bei der Auslegung von § 60 Abs. 8 Satz 2 Alt. 3 AufenthG Art. 12 Abs. 2 c) i.V.m. Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie, ABl. vom 30. September 2004, L 304/12) zu beachten. Danach ist eine Person von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass sie sich Handlungen zuschulden kommen ließ, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und in den Art. 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen verankert sind, zuwiderlaufen; Entsprechendes gilt für Personen, die andere zu solchen Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen. Durch den Verweis auf die Präambel sowie Art. 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen kommt zum Ausdruck, dass es sich um Taten handeln muss, die - wie z.B. die Taten vom 11. September 2001 und andere Taten des internationalen Terrorismus - geeignet sind, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu gefährden. Durch Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2004/83/EG ("anstiften oder .... beteiligen") wird zusätzlich klargestellt, dass ein Tatbeitrag vorliegen muss, der zumindest den Grad einer Beihilfe i.S.d. § 27 StGB erreicht (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 10. März 2006 - 10 A 10665/05 -, Juris Rn. 42; VG Köln, Urteil vom 16. Januar 2006 - 16 K 5589/03.A -, S. 15 des Urteilsabdrucks).

Zur näheren Klärung von Einzelheiten bietet der vorliegende Fall keinen Anlass. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 2 Alt. 3 AufenthG liegen im Falle des Klägers eindeutig nicht vor. Zwar erfordern die Ausschlusstatbestände des § 60 Abs. 8 Satz 2 AufenthG - wie sich bereits aus dem Wortlaut der Norm ergibt ("wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist") - keinen Nachweis im strafrechtlichen Sinne (in diesem Sinne auch BT-Drs. 14/7386 (neu), S. 57).

Jedoch fordert die Verwendung des Adjektivs "schwerwiegend" Gründe von einigem Gewicht. Unsubstantiierte Behauptungen und nicht oder nur unzureichend auf Tatsachen basierende Vermutungen reichen daher nicht aus. Ob in jedem Fall ein hinreichender Tatverdacht zu fordern ist (vgl. Marx, ZAR 2002, 127, 134), bedarf hier keiner weiteren Vertiefung. Denn jedenfalls sind belastbare Belege erforderlich, die konkret auf eine Beteiligung an einer unter § 60 Abs. 8 Satz 2 Alt. 3 AufenthG fallende Tat hinweisen (vgl. OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 10. März 2006 - 10 A 10665/05 -, Juris Rn. 38 und 42).

Die Kontakte des Klägers zu anderen Islamisten (s.o. b ee) weisen einen derartig konkreten Bezug ebenso wenig auf wie seine Stellung als (lokale) religiöse Autorität.

Allerdings hat das Bundesamt den angefochtenen Bescheid nicht (zusätzlich) auf § 73 Abs. 2 AsylVfG gestützt. Dies hindert das Gericht jedoch aus den oben (I. 2. b ee) dargelegten Gründen nicht daran, selbständig zu prüfen, ob die Voraussetzungen dieser Norm vorliegen. Sowohl der Widerruf der Anerkennung (§ 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) als auch deren Rücknahme (§ 73 Abs. 2 AsylVfG) sind prinzipiell auf dieselbe Rechtsfolge, nämlich die Aufhebung einer früheren Anerkennungsentscheidung, gerichtet. Zudem handelt es sich bei beiden Maßnahmen um gebundene Entscheidungen (zum umgekehrten Fall (Bescheid war auf § 73 Abs. 2 gestützt) vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November 1998 - 9 C 53.97 -, BVerwGE 108, 30 (Juris Rn. 16)).

Ob die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 AsylVfG vorliegen, insbesondere das Verpflichtungsurteil vom ... 19.. und der daraufhin ergangene Ausführungsbescheid vom .... 19.. rechtswidrig waren, bedarf indes keiner weiteren Vertiefung. Denn jedenfalls steht einer auf § 73 Abs. 2 AsylVfG gestützten Rücknahme der Anerkennung die (materielle) Rechtskraft des Urteils vom .... 19.. entgegen: Aufgrund dieses Verpflichtungsurteils steht zwischen den Beteiligten (§ 63 VwGO) mit bindender Wirkung (§ 121 Nr. 1 VwGO) fest, dass dem Kläger nach der damals maßgeblichen Sach- und Rechtslage sowohl ein Anspruch auf Anerkennung als asylberechtigt als auch ein Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG gegen die Beklagte zustand. Dagegen setzt § 73 Abs. 2 AsylVfG voraus, dass derartige Ansprüche zum damaligen Zeitpunkt nicht bestanden. Wegen der Rechtskraft des Urteils vom .... 19.. ist es der Beklagten jedoch verwehrt, sich hierauf zu berufen. Diese Rechtskraftwirkung besteht auch unabhängig davon, ob das rechtskräftig gewordene Urteil die seinerzeit bestehende Sach- und Rechtslage erschöpfend und zutreffend gewürdigt hat oder nicht (vgl. BVerwG, Urteile vom 18. September 2001 - 1 C 7.01 -, BVerwGE 115, 118 (Juris Rn. 13) sowie vom 24. November 1998 - 9 C 53.97 -, a.a.O. (Juris Rn. 11); Kopp/Schenke, a.a.O., § 121 Rn. 2).

Eine Ermächtigung zur Durchbrechung der Rechtskraft eines zur Anerkennung verpflichtenden Urteils enthält § 73 Abs. 2 AsylVfG nicht. Die Anwendung des § 73 Abs. 2 AsylVfG setzt vielmehr voraus, dass die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung der Rücknahme der Anerkennung nicht entgegensteht. Hätte der Gesetzgeber die Rechtskraftwirkung bei der Aufhebung von Anerkennungen nach Art. 16a GG bzw. § 60 Abs. 1 AufenthG abweichend von § 121 VwGO einschränken wollen, so hätte dies einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung bedurft. Darauf hat das Bundesverwaltungsgericht bereits in seinem vorstehend zitierten Urteil vom 24. November 1998 (Juris Rn. 13) verwiesen, ohne dass der Gesetzgeber dies bei einer der zahlreichen Änderungen des Asyl- und Ausländerrechts aufgegriffen hätte. Zudem sieht § 153 VwGO i.V.m. §§ 578 ff. Zivilprozessordnung (ZPO) unter bestimmten, restriktiven Voraussetzungen ein spezielles Verfahren zur Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Verfahren vor. Ein solches Verfahren, dessen Voraussetzungen hier allerdings nicht vorgelegen haben dürften, hat die Beklagte nicht eingeleitet.

Grundsätzlich wirkt die (materielle) Rechtskraft eines Urteils zeitlich unbegrenzt. Allerdings endet diese Wirkung, wenn sich die maßgebliche Sach- oder Rechtslage nach Erlass eines Verpflichtungsurteils geändert hat (vgl. BVerwG, Urteile 8. Mai 2003 - 1 C 15.02 -, a.a.O. (Juris Rn.11), vom 23. November 1999 - 9 C 16.99 -, BVerwGE 110, 111 (Juris Rn. 14) sowie vom 24. November 1998 - 9 C 53.97 - a.a.O. (Juris Rn.14); Kilian, in: Sodan/Ziekow (Hrsg.), VwGO, 2. Auflage 2006, § 121 Rnrn. 112 ff.).

Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass ein Urteil lediglich die zum Zeitpunkt seines Erlasses bestehende Sach- und Rechtslage bewertet, nicht aber nachträglich eingetretene Änderungen. Daraus folgt, dass Behörden einen auf einem Urteil beruhenden objektiv rechtswidrigen Anerkennungsbescheid aufheben dürfen, wenn sich die maßgeblichen Verhältnisse nachträglich geändert haben. Ob dies der Fall ist, richtet sich auch im Falle einer von vornherein rechtwidrigen Anerkennung nicht nach § 73 Abs. 2 AsylVfG, sondern nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG (vgl. BVerwG, Urteile vom 25. August 2004 - 1 C 22.03 -, NVwZ 2005, 89 (Juris Rn.10) sowie vom 19. September 2000 - 9 C 12.00 -, a.a.O. (Juris Rn. 13)).

Dass die Voraussetzungen dieser Norm hier nicht vorliegen, wurde bereits dargelegt (s.o. I.).

Ob die Rechtskraftwirkung von Urteilen abweichend von den vorstehenden Ausführungen ausnahmsweise auch dann durchbrochen wird, wenn die Aufrechterhaltung des durch ein Urteil geschaffenen Zustandes "schlechthin unerträglich" wäre, hat das Bundesverwaltungsgericht bisher offen gelassen (vgl. Urteile vom 18. September 2001 - 1 C 7.01 -, a.a.O. (Juris Rn. 13) sowie vom 8. Dezember 1992 - 1 C 12.92 -, BVerwGE 91, 256 (Juris Rn. 19)).

Eine so definierte Durchbrechung der Rechtskraft verwaltungsgerichtlicher Urteile ist indes abzulehnen. Sie findet schon keine Stütze im Wortlaut des § 121 VwGO, der keinen Ansatzpunkt für eine derartige Einschränkung enthält. Darüber hinaus widerspricht eine solche Einschränkung aber auch dem Sinn und Zweck des Rechtsinstituts "materielle Rechtskraft". Diese soll verhindern, dass ein Streitgegenstand, über den bereits rechtskräftig entschieden wurde, in einem weiteren Verfahren zwischen denselben Beteiligten einer erneuten gerichtlichen Sachprüfung zugeführt werden kann. Damit dient sie dem Schutz des Rechtsfriedens und stärkt das Vertrauen in die Beständigkeit des Rechts. Zur Erreichung dieses Ziels hat der Gesetzgeber in Kauf genommen, dass u.U. auch ein unrichtiges Urteil in Rechtskraft erwächst, und der Rechtssicherheit den Vorrang gegenüber der materiellen Gerechtigkeit eingeräumt (vgl. Kilian, a.a.O., § 121 Rn. 5, m.w.N.).

Dieser bewussten Entscheidung des Gesetzgebers widerspräche es, eine Durchbrechung der Rechtskraft im Falle des Vorliegens "unerträglicher Zustände" zuzulassen. Hinzu kommt, dass es sich hierbei um eine nicht näher definierbare Ausnahme ohne feste Konturen handelt. Es steht zu befürchten, dass die Behörden eine solche Ausnahme weit interpretieren würden und somit in vielen Fällen darum gestritten würde, ob die Umsetzung eines rechtswidrigen Verpflichtungsurteils zu "unerträglichen Zuständen" geführt hat. Dies steht mit der Funktion der materiellen Rechtskraft, Rechtssicherheit zu gewährleisten, nicht in Einklang. Es muss daher der Entscheidung des Gesetzgebers überlassen bleiben, ob (1.) die vorstehend dargelegten Grundsätze unterschiedslos über alle Rechtsgebiete hinweg gelten sollen und (2.) unter welchen klar definierten Voraussetzungen (vgl. z.B. § 153 VwGO i.V.m. §§ 578 ff. ZPO) die Rechtskraftwirkung verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen ggf. durchbrochen werden kann. Zu solchen Überlegungen mag der vorliegende Fall Anlass geben.