VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 22.03.2007 - 4 K 5814/06.A - asyl.net: M10481
https://www.asyl.net/rsdb/M10481
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Kurden, PKK, Verdacht der Mitgliedschaft, Sippenhaft, exilpolitische Betätigung, Musiker, Reformen, Änderung der Sachlage
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die Klage ist unbegründet.

Die Voraussetzungen für die Feststellung, dass Leben oder Freiheit des Klägers bei einer Rückkehr in sein Heimatland wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sind, liegen nicht mehr vor. Die Verhältnisse in der Türkei haben sich seit der für den Kläger positiven Entscheidung über die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a.F. nach 1999 in einer Weise geändert, die die Gefahr einer politischen Verfolgung für den Kläger heute ausschließt.

2. Im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung über den Widerrufsbescheid liegen die Voraussetzungen für die Feststellung nach (heute:) § 60 Abs. 1 AufenthG nicht mehr vor.

2.1.2 Die Umstände, die im Jahr 1999 zur Annahme einer Verfolgungsgefahr für den Kläger geführt hatten, nämlich wegen verwandtschaftlicher Beziehungen zu einem Regimekritiker von türkischen Sicherheitskräften behelligt zu werden, sind unter den seither eingetretenen Änderungen der politischen Verhältnisse in der Türkei entfallen.

Die aktuelle Erkenntnislage rechtfertigt nicht mehr die Prognose, dass Sippenhaft selbst nahen Angehörigen von landesweit gesuchten Aktivisten einer militanten staatsfeindlichen Organisation ohne weiteres mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Diese Wahrscheinlichkeit hat im Zuge des Reformprozesses in der Türkei ebenso abgenommen wie die Wahrscheinlichkeit, dass die Beeinträchtigungen der Angehörigen durch diese Maßnahmen die Schwelle des asylrechtlich Unzumutbaren überschreiten. Soweit es noch Vernehmungen oder Durchsuchungen der Wohnung und des Arbeitsplatzes der Verwandten gibt, mag das für den Betroffenen unangenehm sei, versetzt ihn jedoch nicht in die für die Gewährung von Asyl bzw. Abschiebungsschutz vorauszusetzende ausweglose Lage (OVG NW, Urteil vom 18. April 2005, 8 A 273/04.A) Familienangehörige - etwa von vermeintlichen oder tatsächlichen PKK-Mitgliedern oder Sympathisanten - werden möglicherweise nach wie vor zu Vernehmungen geladen oder, wenn sie nicht freiwillig erscheinen, vorgeführt. Seit 2003 ist jedoch kein Fall mehr bekannt geworden, in dem es im Zusammenhang mit der Ermittlung des Aufenthaltes einer gesuchten Person zu Übergriffen gegen Familienangehörige gekommen ist (Auswärtiges Amt, Lagebericht Türkei vom 27. Juli 2006 (Stand Juni 2006), 508-516.80/3 TUR).

Was für die Verwandtschaft von gesuchten Personen gilt, gilt für die Familienmitglieder von Personen, die nicht mit Haftbefehl gesucht wurden und die auch nicht zu den militanten Angehörigen einer staatsfeindlichen Organisation zu zählen sind, erst recht.

2.2 Der Kläger hat wegen der in eigener Person unternommenen exilpolitischen Aktivitäten unter den heute geltenden Verhältnissen in der Türkei ebenfalls keine politische Verfolgung zu befürchten.

2.2.2 Ein exilpolitisches Auftreten ist unter den heute herrschenden Bedingungen in der Türkei schon generell weit weniger noch als früher gefährlich. Es besteht Einigkeit darin, dass niedrig profilierte Aktivitäten noch weniger als früher ein beachtlich wahrscheinliches Verfolgungsrisiko begründen können. Dazu gehören bei kurdischen Asylbewerbern etwa die Teilnahme - auch als Ordner oder Fahnenträger - an Demonstrationen und ähnlichen Veranstaltungen einschließlich der Verteilung von Flugblättern, des Verkaufs von Zeitschriften und der Betreuung von Informationsständen oder die einfache Mitgliedschaft in Exilvereinen. Hierunter fällt auch die bewusste Platzierung von namentlich gekennzeichneten Artikeln, Leserbriefen und Anzeigen in türkischsprachigen Publikationen (OVG Nds., Urteil vom 18. Juli 2006, 11 LB 75/06). Nur wer politische Strategien und Ideen entwickelt oder zu deren Umsetzung mit Worten oder Taten von Deutschland aus maßgeblichen Einfluss auf die türkische Innenpolitik und insbesondere auf die in Deutschland lebenden Landsleute zu nehmen versucht, ist aus der Sicht des türkischen Staates ein ernst zu nehmender politischer Gegner, den es zu bekämpfen gilt. Das ist beispielsweise bei denjenigen exilpolitisch tätigen Asylsuchenden anzunehmen, die in der exilpolitischen Arbeit eine auf Breitenwirkung zielende Meinungsführerschaft übernehmen und erkennbar ausüben, oder die tragende Funktionen im organisatorischen Bereich ausüben. Früher konnten darüber hinaus auch Personen als exponiert angesehen werden, die nicht durch politische Reden auf Veranstaltungen für kurdische Personen warben, die aber eine hervorgehobene Tätigkeit etwa in einer kurdischen Folkloregruppe ausübten; dabei kam es auf Größe und Bekanntheitsgrad dieser Gruppe, die Stellung des Betreffenden in ihr und den politischen Inhalt ihrer Lieder an (Vgl. OVG NRW, Urteil vom 10. Dezember 2002, 8 A 1266/99.A; Urteil vom 27. Juni 2002 - 8 A 4782/99.A -, UA S. 71; Urteil vom 25. Januar 2000 - 8 A 1292/96.A -, Rdnr. 310 jeweils m.w.N; VGH Baden- Württemberg, Urteil vom 27. Juli 2001, A 12 S 228/99).

2.2.4 Unter den heutigen Verhältnissen in der Türkei ist das auf musikalische Beiträge aus dem Bereich der kurdischen Kultur beschränkte Auftreten des Klägers, anders als früher, uneingeschränkt ungefährlich. Denn gerade auf dem kulturellen Sektor hat sich, jedenfalls bis zum Ende des Jahres 2006, der türkische Staates seit 1999 so weit zurück gezogen, dass Verfolgungsgefahren für den Kläger jetzt ausgeschlossen sind.