BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 16.05.2007 - 2 BvR 2106/05 - asyl.net: M10495
https://www.asyl.net/rsdb/M10495
Leitsatz:

Keine analoge Anwendung der Regelungen zur Abschiebungshaft.

 

Schlagwörter: D (A), Abschiebungshaft, Analogie, Freiheit der Person, Gesetzesvorbehalt, Sicherungshaft, Verlängerung, Verfassungsbeschwerde
Normen: GG Art. 2 Abs. 2 S. 2; GG Art. 104 Abs. 1 S. 1; AufenthG § 62 Abs. 2; BVerfGG § 93a Abs. 2
Auszüge:

Keine analoge Anwendung der Regelungen zur Abschiebungshaft.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte des Beschwerdeführers angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist danach offensichtlich begründet im Sinne von § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Die angegriffene Entscheidung verletzt Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG.

1. Die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) ist ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf (vgl. BVerfGE 10, 302 <322>; 29, 312 <316>). Geschützt wird die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor Eingriffen wie Verhaftung, Festnahme und ähnlichen Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs (vgl. BVerfGE 22, 21 <26>; 94, 166 <198>; 96, 10 <21>). Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes beschränkt werden. Die Eingriffsvoraussetzungen müssen sich dabei unmittelbar und hinreichend bestimmt aus dem Gesetz selbst ergeben (vgl. - insbesondere zu den Konsequenzen für Androhung von Freiheits-strafen - BVerfGE 14, 174 <187>; 51, 60 <70>; 75, 329 <342 f.>; 78, 374 <383>; BGHZ 15, 61 <63 f.>). Vor allem steht Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG einer analogen Heranziehung materiell-rechtlicher Ermächtigungsgrundlagen für Freiheitsentziehungen entgegen (vgl. BVerfGE 29, 183 <196>; 83, 24 <32>).

2. Das Oberlandesgericht hat den Gesetzesvorbehalt des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG verkannt.

Nach der hier allein in Betracht zu ziehenden Vorschrift des 62 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist ein Ausländer zur Sicherung der Abschiebung auf richterliche Anordnung in Haft zu nehmen (Sicherungshaft), wenn weitere, in sechs Ziffern näher bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Das Oberlandesgericht stellt den Rechtssatz auf, zwar gelte grundsätzlich für die Anordnung von Abschiebehaft, dass ihr vorrangiger Zweck allein die Sicherung der anstehenden Abschiebung sei, von dieser Regel könne aber bei Vorliegen besonderer Umstände abgewichen werden. Mit dieser Auslegung gibt das Oberlandesgericht § 62 Abs. 2 Satz 1 AufenthG eine Normstruktur, die in der Vorschrift nicht angelegt ist und für die es bei einer systematischen Betrachtung des Aufenthaltsgesetzes keinen Anhalt gibt (vgl. z.B. § 53, § 54 AufenthG zu Ist- und Regel-Ausweisung). Darin liegt zugleich ein Verstoß gegen Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG, weil die in dieser Verfassungsvorschrift geforderte strikte Gesetzesbindung jeglicher Freiheitsentziehung zugunsten der Möglichkeit aufgegeben wird, bei besonderen Umständen eine Freiheitsentziehung auch aus anderen als den im Gesetz genannten Gründen anzuordnen.

Die Auffassung des Oberlandesgerichts findet keine Stütze in der Vorschrift des § 62 AufenthG, sondern läuft auf deren entsprechende Anwendung hinaus und ist daher mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG unvereinbar. Das Oberlandesgericht hat die Aufrechterhaltung der Haft über den für eine Durchführung der Abschiebung erforderlichen Zeitraum hinaus unter Berufung auf eine Vorgehensweise der Ausländerbehörde gerechtfertigt, die nicht der Sicherung der Abschiebung, sondern der Verhinderung weiterer illegaler Einreisen dienen sollte. Das Oberlandesgericht erkennt zwar, dass Abschiebungshaft ausweislich des klaren Wortlauts des § 62 AufenthG und nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Literatur einzig der Sicherung der Abschiebung dient (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juni 1986 - V ZB 9/86 -, NJW 1986, S. 3024 f.; OLG München, Beschluss vom 3. August 2005 - 34 Wx 79/05 -, a.a.O.; Hailbronner, Ausländerrecht, April 2006, § 62 AufenthG, Rn. 1; Beichel-Benedetti/Gutmann, NJW 2004, S. 3015 <3016>; Piorreck, in: Barwig u.a. (Hrsg.), Neue Regierung - neue Ausländerpolitik?, Baden-Baden 1999, S. 465), es hält sich jedoch für berechtigt, die Vorschrift entsprechend anzuwenden. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG verleiht dem Haftrichter eine derartige Befugnis indes nicht.

Sollte der angegriffenen Entscheidung die Erwägung zugrunde liegen, die Abschiebungshaft sei im Hinblick auf die Gefahr, dass der Beschwerdeführer sich der Abschiebung entziehe, dem Grunde nach gerechtfertigt gewesen und bei der davon zu trennenden Rechtfertigung ihrer Dauer könnten über den Haftzweck der Sicherung der Abschiebung hinaus andere Gesichtspunkte berücksichtigt werden, beruhte auch dies auf einer Verkennung des in Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG normierten Gesetzesvorbehalts. Eine Freiheitsentziehung muss zu jedem Zeitpunkt ihrer Dauer von der gesetzlichen Ermächtigung gedeckt sein. Es ist von Verfassungs wegen ausgeschlossen, die Fortdauer der Abschiebungshaft wegen des Zeitaufwandes für Verwaltungsvorgänge anzuordnen, mit denen ein anderer Zweck als derjenige verfolgt wird, der die Haft dem Grunde nach rechtfertigt.