VG Koblenz

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Zitieren als:
VG Koblenz, Urteil vom 21.05.2007 - 1 K 229/07.KO - asyl.net: M10512
https://www.asyl.net/rsdb/M10512
Leitsatz:

Alleinstehende Rückkehrer sind in Afghanistan einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, medizinische Versorgung, alleinstehende Personen, soziale Bindungen, Situation bei Rückkehr, Kabul, Wohnraum, RANA-Programm, IOM
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7; AsylVfG § 73 Abs. 3
Auszüge:

Alleinstehende Rückkehrer sind in Afghanistan einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Klage hat bereits mit dem vom Kläger gestellten Hauptantrag Erfolg.

Ermächtigungsgrundlage für den Widerruf ist § 73 Abs. 3 AsylVfG.

Die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG a.F. sind jedoch im hier gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG maßgebenden Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nach wie vor gegeben, mit der Folge, dass ein Widerruf ausscheidet.

Eine derartige extreme Gefahrenlage ist für den Kläger wegen der in Afghanistan bestehenden unzureichenden Versorgungslage auch tatsächlich gegeben, sodass offen bleiben kann, ob sich in Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG (sog. Qualifikationsrichtlinie vom 29. April 2004 (ABl. L 304 vom 30. September 2004, S. 12) ein erleichterter Prognosemaßstab ergibt.

Zwar ergibt sich aus den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen, dass in Afghanistan auch derzeit noch zahlreiche supranationale, staatliche und auch private Hilfsorganisationen die Versorgung der Not leidenden Bevölkerung einschließlich der aus den Nachbarländern oder Europa zurückkehrenden Flüchtlinge zu sichern versuchen. Gleichwohl haben sich die allgemeinen Lebensbedingungen in den letzten Jahren dramatisch zugespitzt.

Das Auswärtige Amt (Lageberichte vom 29. November 2005, 13. Juli 2006 und 17. März 2007) bezeichnet die Wirtschaftslage in Afghanistan, einem der ärmsten Länder der Welt, als "desolat". Die humanitäre Situation stehe mit Blick auf die etwa 4 Millionen zurückgekehrten Flüchtlinge, vornehmlich aus Pakistan, vor "großen Herausforderungen". Die Wohnraumversorgung sei unzureichend, knapp und die Preise in Kabul seien hoch. Die Versorgungslage in Kabul und anderen großen Städten habe sich grundsätzlich verbessert, in anderen Gebieten sei sie weiter "nicht zufrieden stellend". Humanitäre Hilfe sei weiterhin "von erheblicher Bedeutung"; sie werde im Norden durch Zugangsprobleme, im Süden und Osten durch Sicherheitsprobleme erschwert. Die medizinische Versorgung sei völlig unzureichend, selbst in Kabul. Rückkehrer könnten "auf Schwierigkeiten stoßen", wenn sie außerhalb eines Familienverbandes oder nach längerer Abwesenheit im westlich geprägten Ausland zurückkehrten und ihnen ein soziales oder familiäres Netzwerk sowie örtliche Kenntnisse fehlten. Freiwillige Rückkehrer zu ihren Angehörigen und zum Teil auch in die ehemaligen Unterkünfte strapazierten die nur sehr knappen Ressourcen an Wohnraum und Versorgung noch weiter. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR habe mit verschiedenen Organisationen eine Vereinbarung über die Errichtung von Unterkünften geschlossen; bis Ende 2003 seien knapp 70.000 gebaut worden, 2004 wegen fehlender Finanzen nur noch 27.000. Die Fortsetzung der Hilfsoperationen von UNHCR und IOM (International Organisation for Migration) seien von neuen Unterstützungszusagen der Geberländer abhängig.

Erscheint dieses vom Auswärtigen Amt gezeichnete Bild bereits äußerst düster, so stellt es sich nach dem von dem Journalisten und Gutachter Dr. Mostafa Danesch gefertigten Gutachten vom 25. Januar 2006 an das VG Hamburg, das auf einer vom 10. bis zum 26. Dezember 2005 unternommenen Reise des Verfassers nach Kabul beruht, als noch schlimmer dar.

In Würdigung dieser Gesamtumstände geraten Rückkehrer, die, wie der Kläger, in Afghanistan über keine näheren Verwandten verfügen, jedenfalls derzeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in eine nahezu aussichtslose Lage. Denn sie haben keinerlei realistische Chance, der Obdach- und Arbeitslosigkeit sowie der Verelendung zu entgehen und sind deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit der ernstlichen Gefahr ausgesetzt, mangels jeglicher Lebensgrundlage den baldigen sicheren Hungertod ausgesetzt zu sein. Dies gilt gerade auch für Flüchtlinge aus Europa, die oftmals vor ihrer Ausreise aus Afghanistan ihren gesamten Besitz veräußert haben und als Empfänger von Sozialhilfe und ähnlichen Leistungen über keine Rücklagen verfügen, die ihnen einen Neubeginn ermöglichen könnten (Dr. Mostafa Danesch, a.a.O).

Die gegenteiligen Ausführungen des Auswärtigen Amtes (vgl. Stellungnahme vom 1. September 2006 an VG Schwerin), wonach sich die Situation der europäischen Rückkehrer von denjenigen, die während der Kriegs- und Bürgerkriegswirren in die angrenzenden Nachbarländer (insbesondere Iran und Pakistan) geflüchtet sind, deutlich unterscheiden sollen, vermögen nicht zu überzeugen. Abgesehen davon, dass auf die dezidierten Beschreibungen der allgemeinen Lebensumstände in der vorgenannten Stellungnahme des Gutachters Dr. Danesch nur völlig pauschal eingegangen wird, kann sich das Auswärtige Amt namentlich nicht auf das von der Europäischen Union finanzierte sog. RANA-Programm berufen. Unbeschadet dessen, ob das Programm Ende April 2007 ausgelaufen ist, erfolgen Leistungen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, faktisch nur an freiwillig zurückkehrende Personen, für welches das von der IOM betreute Projekt ursprünglich auch allein konzipiert worden war. So soll das afghanische Ministerium für Rückkehrer in den vergangenen Jahren die darin vorgesehenen Hilfsleistungen nur an zwei Personen gewährt haben, die aus Großbritannien sowie aus Indien abgeschoben worden sind (Dr. Mostafa Danesch vom 4. Dezember 2006 an HessVGH). Hinzu kommt, dass Personen, die aus Deutschland abgeschoben werden, sich weder mit dem vorgesehenen Anmeldeformular zehn Tage vor Ausreise registrieren, noch Vertreter der IOM sie bei Ankunft in Kabul am Flughafen in Empfang nehmen und betreuen können, da man dort nach eigener Aussage über die Ankunft von abgeschobenen Personen in der Regel nicht informiert wird. Damit fallen sämtliche RANA-Programm-Komponenten zur Unterstützung vor der Ausreise und bei der Ankunft weg, also unter anderem medizinischer Unterstützung und anfängliche Unterbringung. Dies deckt sich mit einer Reihe von Berichten über Afghanen, die aus Deutschland abgeschoben wurden und bei Ankunft am Kabuler Flughafen keinerlei Hilfe erhielten (vgl. amnesty international vom 17. Januar 2007 an HessVGH). Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass sich ein Asylbewerber auf die Inanspruchnahme von angebotenen Rückkehrhilfen grundsätzlich verweisen lassen muss, sind die im RANA-Programm geregelten Hilfsleistungen jedenfalls aufgrund ihrer praktischen Handhabung zurzeit völlig unzureichend, um existenzielle Gefahren für Rückkehrer abzuwenden. Beispielsweise beträgt die Verweildauer in dem von der afghanischen Regierung für zurückkehrende Flüchtlinge zur Verfügung gestellten Gästehaus, das anscheinend lediglich über 20 Wohnplätze verfügt, höchstens zehn Tage. Laut Auskunft eines stellvertretenden afghanischen Ministers sollen überdies von dem sich zuletzt auf 4,5 Millionen US-Dollar belaufenden Jahresbudget des Programms nur ca. 150.000 US-Dollar angekommen sein (vgl. dazu im Einzelnen: Dr. Danesch vom 4. Dezember 2006 an HessVGH). Von daher ist das Programm von seinem Zuschnitt her offenbar ungeeignet, eine größere Zahl von Abgeschobenen aufzunehmen und nicht nachvollziehbar, wie es abgeschobenen Personen ermöglichen soll, in Afghanistan eine Existenz aufzubauen (vgl. amnesty international vom 17. Januar 2007 an HessVGH). Weiterhin ist dem Auswärtigen Amt auch nicht zu folgen, soweit es behauptet, die Situation von Rückkehrern hinsichtlich Wohnraum, medizinischer Versorgung und Nahrungsmittelzuteilung sei mit den Verhältnissen, die ca. 4,5 Millionen Afghanen in Kabul ständig erlebten, vergleichbar. Die in Afghanistan lebende Bevölkerung ist nämlich in aller Regel in soziale Strukturen eingebettet und kann sich auf die Unterstützung einer Familie oder von nahen Verwandten verlassen. Dies ist aber bei zwangsweise abgeschobenen Flüchtlingen, die alle Kontakte abgebrochen haben und über keine noch im Land verbliebenen Angehörigen verfügen, gerade nicht der Fall. Hinzu kommt, dass die aus Iran und Pakistan zurückgekehrten Flüchtlinge selbst im Elend leben. Tausende von ihnen sind durch Hunger, Krankheit, Seuchen, Kälte und Hitze gestorben und keine Statistik erwähnt die wahren Todesursachen (vgl. Dr. Mostafa Danesch vom 15. August 2007 an den Kläger).