VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 30.05.2007 - 3 A 454/05 - asyl.net: M10526
https://www.asyl.net/rsdb/M10526
Leitsatz:

§ 60 Abs. 7 AufenthG wegen posttraumatischer Belastungsstörung; keine angemessene Behandelbarkeit im Kosovo

 

Schlagwörter: Serbien, Kosovo, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, psychische Erkrankung, posttraumatische Belastungsstörung, Alkoholabhängigkeit, medizinische Versorgung, fachärztliche Stellungnahme, interne Fluchtalternative, Registrierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

§ 60 Abs. 7 AufenthG wegen posttraumatischer Belastungsstörung; keine angemessene Behandelbarkeit im Kosovo

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Kläger hat angesichts seines Krankheitsbildes Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung der Voraussetzungen eines individuell-konkreten zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.

Das dem Bundesamt eingeräumte Ermessen auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Hinblick auf die Feststellung der Voraussetzungen dieses Abschiebungsverbotes ist deshalb auf Null reduziert (vgl. VG Stuttgart, Urteil vom 24.04.2006 - A 11 K 13347/05 -; VGH Mannheim, Beschluss vom 04.01.2000 - A 14 S 786/99-, NVwZ-RR 2000, 261/262). Die Beklagte ist somit zu verpflichten, festzustellen, dass bei dem Kläger die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich der Republik Serbien (einschließlich Kosovo) vorliegen.

Die unter dem 30.11.2005 partei-gutachterlich festgestellte psychische Erkrankung des Klägers - eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F 43.1, eine mittelgradige depressive Episode (ICD-10: F 32.1) und Alkoholkrankheit bzw. ein "Abhängigkeitssyndrom" (ICD-10: F 10.2), gegenwärtig weitestgehend abstinent - ist nach der aus dem Gesamtschau des Verfahrens gewonnenen Überzeugung des Gerichts auf psychisch sehr stark belastende Ereignisse während seiner Militärzeit 1993 zurückzuführen.

Aufgrund der im Kosovo nicht zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zur Weiterführung fachgerechter psychotherapeutischer Behandlungen ernsthafter psychischer Erkrankungen (vgl. Karsten Lüthke, ehemaliger Repatriation Adviser der UNMIK im Kosovo, Bericht vom Februar 2007 "Perspektiven bei einer Rückkehr in das Kosovo, insbesondere für Angehörige ethnischer Minderheiten", B.IV. S. 7 m.w.N., insoweit nicht in Asylmagazin 2007, 28 ff., abgedruckt; UN Kosovo Team, Bericht vom Januar 2007 "Erste Beobachtungen zu Defiziten im Gesundheitsversorgungssystem im Kosovo", deutsche Übersetzung von UNHCR Berlin, März 2007, Asylmagazin 2007, 31/32; Memorandum des Gesundheitsministers der provisorischen Selbstverwaltungsorgane im Kosovo an die internationale Gemeinschaft zu Behandlungskapazitäten für Menschen, die an posttraumatischen Belastungsstörungen und ähnlichen Krankheiten leiden, vom 30.10.2006, deutsche Übersetzung von UNHCR Berlin, Januar 2007; Gierlichs, "Zur psychiatrischen Versorgung im Kosovo", ZAR 2006, 277 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Gutachten zur Behandlung einer psychischen Erkrankung in Kosovo vom 02.05.2005, S. 4 f. und S. 8) steht für das Gericht fest, dass sich der Gesundheitszustand des Klägers im Falle einer Rückkehr in den Kosovo wesentlich verschlechtern würde. Nach den vom Gericht für überzeugend gehaltenen Ausführungen des psychologisch-psychotraumtologischen Fachgutachtens vom 30.11.2005 besteht weiterhin eine dringende Behandlungsbedürftigkeit sowie die Notwendigkeit, das stabilisierende Lebensumfeld des Klägers, insbesondere die seinen Alltag maßgeblich strukturierende Arbeit beizubehalten.

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist das Gericht davon überzeugt, dass das vom Kläger vorgelegte Fachgutachten nicht eines ist, dass zu der Welle nach Darstellung der Beklagten inflationär PTBS-bescheinigender Gutachten gehört. Vielmehr überzeugt die ausführliche, nachvollziehbar und widerspruchsfrei in dem Gutachten dargelegte Diagnose das Gericht. Die Beklagte vermochte mit den im Tatbestand im Wesentlichen wiedergegebenen Darlegungen im Rahmen dieses Gerichtsverfahrens, die teilweise auf einen auf dem Rücken des Klägers ausgetragenen fachwissenschaftlichen Streit hindeuteten, diese Überzeugung nicht ansatzweise zu erschüttern. Der Einholung eines weiteren Gutachtens bedurfte es deshalb nicht.

Dem Kläger droht wegen seiner schwerwiegenden psychischen Erkrankung auch landesweit eine Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Er kann nicht darauf verwiesen werden, sich im übrigen Serbien (außerhalb des Kosovo) psychotherapeutisch behandeln zu lassen. In Serbien ist der Zugang zur Gesundheitsversorgung außerhalb des Kosovo von einer Anmeldung mit ständigem Wohnsitz bzw. einer Registrierung als Binnenvertriebener abhängig (vgl. UNHCR, Zur Situation von binnenvertriebenen Minderheiten, September 2004, und Stellungnahme vom 27.09.2005 an VG Stuttgart). In der Praxis ist im Falle der Rückkehr aus dem Ausland eine Registrierung nur in der Gemeinde des letzten Wohnsitzes möglich (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 21.10.2004 an VG Sigmaringen; OVG Lüneburg, Beschluss vom 03.11.2005 - 8 LA 322/04 -, InfAuslR 2006, 63). Der aus dem Kosovo stammende Kläger hat somit nicht die Möglichkeit, sich als Flüchtling oder intern Umgesiedelter in Serbien registrieren zu lassen, um über diesen Weg Zugang zu der für notwendig erachteten Gesundheitsversorgung außerhalb des Kosovo zu erhalten.