OVG Berlin-Brandenburg

Merkliste
Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25.04.2007 - 12 B 16.07 - asyl.net: M10533
https://www.asyl.net/rsdb/M10533
Leitsatz:

Die sozialrechtlichen Freibeträge des § 11 Abs. 2 SGB II sind bei der Bestimmung des erforderlichen Einkommens zur Sicherung des Lebensunterhalts zu berücksichtigen.

 

Schlagwörter: D (A), Aufenthaltserlaubnis, Familienzusammenführung, Kinder, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Beurteilungszeitpunkt, Lebensunterhalt, Einkommen, Anrechnung, Freibetrag, notwendige Ausgaben, Schutz von Ehe und Familie, Ausweisung, Sozialhilfebezug
Normen: AufenthG § 32 Abs. 3 2. Alt; AufenthG § 5 Abs. 1 Nr. 1; AufenthG § 2 Abs. 3; SGB II § 11 Abs. 2; SGB II § 30; AufenthG § 55 Abs. 2 Nr. 6; GG Art. 6 Abs. 1
Auszüge:

Die sozialrechtlichen Freibeträge des § 11 Abs. 2 SGB II sind bei der Bestimmung des erforderlichen Einkommens zur Sicherung des Lebensunterhalts zu berücksichtigen.

(Leitsatz der Redaktion)

Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, denn die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung des begehrten Visums (§ 113 Abs. 5 VwGO).

I. Zwar liegen die in § 32 Abs. 3 2. Alt. des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG -) vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes zur Anpassung von Rechtsvorschriften des Bundes infolge des Beitritts der Republik Bulgariens und Rumäniens zur Europäischen Union vom 7. Dezember 2006 (BGBl. I S. 2814) in Verbindung mit der Bekanntmachung vom 26. Januar 2007 (BGBl. II S. 127), für den Nachzug der Klägerin zu ihrer Mutter genannten Voraussetzungen vor.

Es fehlt jedoch an der nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG erforderlichen Sicherung des Lebensunterhalts zum Zeitpunkt der Vollendung des 16. Lebensjahres der Klägerin im Mai 2006.

§ 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG bestimmt, dass der Lebensunterhalt eines Ausländers gesichert ist, wenn er ihn einschließlich ausreichenden Krankenversicherungsschutzes ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Die Feststellung dieser Voraussetzung erfordert einen Vergleich des voraussichtlichen Unterhaltsbedarfs mit dem tatsächlich zur Verfügung stehenden Einkommen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. August 2005, a.a.O.).

1. Der Unterhaltsbedarf setzt sich aus der Summe der auf die Familie entfallenden Regelsätze nach §§ 20, 28 des Sozialgesetzbuches Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitssuchende - (SGB II) vom 24. Dezember 2003 (BGBl. I S. 2954) in der Fassung vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 2014), den Kosten für die Unterkunft (§ 22 SGB II in der Fassung vom 24. März 2006 <BGBl. I S. 558>) und den Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung (§ 26 SGB II in der Fassung vom 21. März 2005 <BGBl. I S. 818>) zusammen. Letztere sind hier nicht anzusetzen, da sie von der Mutter der Klägerin nicht nach der Auszahlung des Lohns abgeführt werden müssen, sondern ausweislich der vorgelegten Gehaltsnachweise bereits durch den Arbeitgeber vom Lohn abgezogen werden.

2. Dem so ermittelten Unterhaltsbedarf stand im Mai 2006 kein gesichertes Einkommen der Mutter der Klägerin gegenüber.

a) Für die Berechnung des zur Verfügung stehenden Einkommens ist ebenfalls das Sozialgesetzbuch Zweites Buch maßgebend, das in § 11 Abs. 1 SGB II bestimmt, welches Einkommen bei der Prüfung der Hilfebedürftigkeit im Sinne von § 9 Abs. 1 Nr. 2 SGB II zu berücksichtigen ist. Von den danach ermittelten Einnahmen sind sämtliche in § 11 Abs. 2 SGB II genannten Posten abzusetzen.

aa) Dies gilt auch für den Erwerbstätigenfreibetrag nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 in Verbindung mit § 30 SGB II (in der Fassung vom 14. August 2005 <BGBl. I S. 2407>; vgl. VG Berlin, Urteil vom 28. März 2006 - VG 4 V 56.05 -, juris; Urteil vom 1. Juni 2006 - VG 2 V 5.06 -, juris; a.A.: Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, Stand: Februar 2007, § 2 Rn. 43.2, 46; Hessischer VGH, Beschluss vom 14. März 2006 - 9 TG 512/06 -, juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 29. November 2006 - 11 LB 127/06 -, juris; VG Lüneburg, Urteil vom 18. Januar 2007 - 6 A 353/05 -, juris; VG Berlin, Urteil vom 23. September 2005 - VG 25 A 329.02 -, juris; vermittelnd: VG Berlin, Gerichtsbescheid vom 27. Januar 2007 - VG 37 V 12.03 -; offen gelassen vom OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18. August 2005, a.a.O.).

Der Freibetrag stellt eine sozialleistungsrechtliche Privilegierung Erwerbstätiger dar, da durch die eingeräumte Abzugsmöglichkeit trotz eines tatsächlich zur Verfügung stehenden höheren Einkommens noch ein (ergänzender) Anspruch auf Sozialleistungen besteht. Damit soll ein finanzieller Anreiz zur Aufnahme bzw. Beibehaltung einer bestehenden Erwerbstätigkeit entsprechend dem Grundsatz geschaffen werden, dass derjenige, der arbeitet, mehr Geld zur Verfügung haben soll als derjenige, der trotz Erwerbsfähigkeit nicht arbeitet (vgl. Zeitler in: Mergler/Zink, Handbuch der Grundsicherung und Sozialhilfe, Teil I: SGB II, Stand: Januar 2007, § 11 Rn. 83, § 30 Rn. 2). Es handelt sich mithin um eine fiktive Einkommensminderung, um den genannten arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Zweck zu erreichen.

Diese Zielrichtung steht einer Berücksichtigung der Freibetragsregelung bei der Berechnung des zur Sicherung des Lebensunterhalts zur Verfügung stehenden Einkommens im Rahmen von §§ 5 Abs. 1 Nr. 1, 2 Abs. 3 AufenthG nicht entgegen, obwohl dadurch die Anforderungen, die zur Erlangung eines Aufenthaltstitels zu erfüllen sind, für erwerbstätige Ausländer erheblich verschärft werden. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG beinhaltet mit der Lebensunterhaltssicherung die wichtigste Voraussetzung, um die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu verhindern (vgl. Begründung zum Entwurf des Zuwanderungsgesetzes BT-Drs. 15/420, S. 70, zu § 5 Abs. 1 Nr. 1). Das damit verfolgte legitime gesetzgeberische Interesse, keine weiteren bzw. neuen Belastungen für die öffentlichen Haushalte zu schaffen, gebietet, den Lebensunterhalt bereits dann als nicht gesichert anzusehen, wenn der Ausländer einen Anspruch auf öffentliche, nicht auf eigenen Beiträgen beruhende Leistungen hat und zwar unabhängig davon, ob er diese tatsächlich in Anspruch nimmt. Nur durch die Berücksichtigung auch eines zunächst lediglich rechnerisch bestehenden Anspruches auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch wird der Zweck der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu verhindern, gewährleistet. Die dabei zu treffende prognostische Entscheidung hinsichtlich der Sicherung des Lebensunterhalts an der Prüfung auszurichten, ob ein Anspruch auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch gegeben wäre, entspricht dem Wortlaut von § 2 Abs. 3 AufenthG. Diese Norm enthält keine Einschränkung, sondern spricht allgemein vom Bestreiten des Lebensunterhalts "ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel".

Auch beseitigt die lediglich fiktive Minderung der tatsächlich verfügbaren Eigenmittel um den nach § 30 SGB II zugebilligten Freibetrag nicht die Hilfebedürftigkeit des Betroffenen im Sinne des Gesetzes. Gemäß § 7 Abs. 1 SGB II erhalten Leistungen nach diesem Buch nur Personen, die nach der Einschätzung des Gesetzgebers öffentliche Leistungen benötigen, um ihren Lebensunterhalt im Bundesgebiet bestreiten zu können, d.h. sie können im Sinne von § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ihren Lebensunterhalt gerade nicht ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten (vgl. in diesem Sinne auch Weisung des Beigeladenen in der Fassung vom 27. März 2007). Darüber hinaus handelt es sich bei den die Hilfebedürftigkeit regelnden Normen (§§ 9 ff. SGB II) wie auch den in §§ 29 ff. SGB II normierten Anreizen und Sanktionen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit insgesamt um ein geschlossenes, in sich stimmiges System, dessen Teilregelungen derart aufeinander abgestimmt sind, dass ein angemessener Ausgleich zwischen den öffentlichen Interessen und denen der hilfesuchenden Betroffenen gewährleistet ist. Daher ist das ausländerrechtlich maßgebliche Einkommen anhand von § 11 SGB II zu berechnen, ohne einzelne Regelungen herauszulösen bzw. ausgewählte Abzugsbeträge nicht zu berücksichtigen. Aus diesem Grund kommt eine nur teilweise Berücksichtigung des Freibetrages nach § 30 SGB II - wie sie eine vermittelnde Auffassung vorschlägt - gleichfalls nicht in Betracht, zumal jegliche Anhaltspunkte für eine wie auch immer geartete Aufteilung fehlen.

Dem bedeutsamen Interesse der Bundesrepublik Deutschland, neu entstehende Soziallasten für die öffentliche Hand zu verhindern, kann nicht bei einer später anstehenden Verlängerung des Aufenthaltstitels oder durch eine ggf. auszusprechende Ausweisung hinreichend Rechnung getragen werden. Einen Ausländer trotz eines bestehenden rechnerischen Anspruchs auf Sozialleistungen erst einreisen zu lassen, um ihn dann bei Inanspruchnahme von Leistungen zur Grundsicherung nach § 55 Abs. 2 Nr. 6, Abs. 1 AufenthG auszuweisen, wäre ermessensfehlerhaft. Ebenso wenig könnte sich die Behörde bei der Entscheidung über eine Verlängerung des Aufenthaltstitels auf das Fehlen der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG berufen, wenn sich die finanziellen Verhältnisse des Ausländers seit der erstmaligen Erteilung oder letzten Verlängerung nicht verschlechtert haben. Hinzu kommt, dass bei einer Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch der Ausweisungsgrund des § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG nicht erfüllt sein dürfte, da der Ausländer keine Leistungen der Sozialhilfe, sondern der Grundsicherung erhält (vgl. Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, Stand: Februar 2007, § 2 Rn. 43.1). Während nämlich in § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG in der Fassung vom 18. März 2005 ausdrücklich beides genannt wird, ist eine entsprechende Anpassung von § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG im Zuge der Gesetzesänderung im März 2005 unterblieben. Entsprechend könnte die Verlängerung eines Aufenthaltstitels nicht unter Hinweis auf das Vorliegen eines Ausweisungsgrundes (§§ 8 Abs. 1, 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) versagt werden.

Die mit diesem Ergebnis verbundene erhebliche Beschränkung der Familiennachzugsmöglichkeiten begegnet schließlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken und steht darüber hinaus im Einklang mit der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - vom 7. August 1952 (BGBl. II S. 685). Art. 6 Abs. 1 GG gebietet nicht, ausländischen Staatsangehörigen in jedem Fall die Möglichkeit einzuräumen, ihre familiäre Lebensgemeinschaft in Deutschland zu führen.

bb) Ebenso vom Einkommen abzusetzen sind die in § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 SGB II genannten notwendigen Ausgaben bei der Erzielung des Einkommens (a.A. VG Lüneburg, Urteil vom 18. Januar 2007 - 6 A 353/05 -, juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 29. November 2006 - 11 LB 127/06 -, juris, insoweit jeweils ohne Begründung). Dieser gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 SGB II abzuziehende Pauschalbetrag in Höhe von 100,00 Euro soll die in § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 bis 5 SBG II genannten Beiträge und Auslagen kompensieren, weil es sich dabei nach Auffassung des Gesetzgebers um einen im Regelfall tatsächlich entstehenden Aufwand handelt, der das Einkommen entsprechend mindert. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob entsprechende Auslagen, z. B. Versicherungsbeiträge oder Fahrtkosten, im Einzelfall wirklich entstehen.