VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 24.05.2007 - 3 E 582/06.A - asyl.net: M10542
https://www.asyl.net/rsdb/M10542
Leitsatz:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen extremer Gefahrenlage in Afghanistan für alleinstehende Rückkehrer.

 

Schlagwörter: Afghanistan, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Taliban, Kabul, Versorgungslage, Wohnraum, medizinische Versorgung, Situation bei Rückkehr, IOM, RANA-Programm, alleinstehende Personen, soziale Bindungen, Erlasslage, Abschiebungsstopp
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen extremer Gefahrenlage in Afghanistan für alleinstehende Rückkehrer.

(Leitsatz der Redaktion)

 

Der Kläger hat einen Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf Afghanistan; insoweit verletzt der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 23.03.2006 den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

Für den Kläger bestünde jedoch im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan eine existentiell bedrohliche allgemeine Gefahrenlage.

Diese Voraussetzungen sind zwar in Bezug auf die Sicherheitslage in Afghanistan nicht erfüllt.

Die genannten Voraussetzungen sind jedoch jedenfalls im vorliegenden Falle erfüllt, soweit es die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln, Wohnraum und die Krankenversorgung anbetrifft.

Die jüngsten und ausführlichsten Berichte über die Lage in Afghanistan stammen von Dr. Mostafa Danesch, der das Land zuletzt in der Zeit vom 10. bis 26.12.2005 besucht hat. Er kommt in seinem Gutachten an das VG Wiesbaden vom 23.01.2006 zu dem Ergebnis, dass sich die Lebensverhältnisse in Kabul - dem einzigen Ort, der für eine Abschiebung in Frage komme - in katastrophalem Maße verschlechtert hätten. Jeder Rückkehrer aus dem Ausland erhalte bei seiner Ankunft von der UN nur eine Hilfe in Höhe von 12 US-Dollar. Einem Teil der meist aus 8 bis 10 Personen bestehenden Familien werde darüber hinaus im Rahmen der World-Food-Programme 1 Zelt, 1 Eimer, 50 kg Getreide, 2 Stück Seife und einige Meter Stoff für die Frauen zugeteilt. Weitere Hilfen gebe es nicht. Wirkliche Hilfsprogramme stünden nur auf dem Papier.

Die einmalige Hilfe von 12 Dollar pro Person reiche angesichts der wegen der Anwesenheit von Angehörigen ausländischer Hilfsorganisationen - wohl auch wegen der Zunahme der Bevölkerung von etwa 1 Million zum Ende der Taliban-Herrschaft auf heute 4,5 bis 5 Millionen - drastisch gestiegenen Mietpreise für eine Wohnung nicht aus. Auch wer Arbeit habe, könne eine feste Wohnung nicht bezahlen. Wer sich keine Wohnung leisten könne, müsse mit einer Unterkunft in einem der Flüchtlingslager vorlieb nehmen, in denen katastrophale Verhältnisse herrschten.

In seiner Aussage als sachverständiger Zeuge vor dem OVG Berlin-Brandenburg vom 05.05.2006 in den Verfahren 12 B 9. und 11.05 hat Dr. Danesch wiederholt, dass zurückkehrende Flüchtlinge von der UN nur eine Hilfe in Höhe von 12 US-Dollar erhielten. Chancen auf dem Arbeitsmarkt hätten allenfalls gut ausgebildete Personen wie Techniker etwa im Bereich der neuen Technologien und Spezialisten auf dem Bau. Die Mehrzahl der Millionen Flüchtlinge fänden nur von Zeit zu Zeit als Tagelöhner Arbeit. Eine Tätigkeit als Dolmetscher oder Übersetzer scheitere regelmäßig daran, dass die Deutschkenntnisse von den in Frage kommenden deutschen Stellen als nicht ausreichend angesehen würden. Durch die Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit könnten sich Rückkehrer aus Westeuropa in Kabul nur dann über Wasser halten, wenn sie über die für die Eröffnung eines Geschäftes oder Betriebes erforderlichen Finanzmittel verfügten. In einem solchen Falle bestehe die Möglichkeit, ergänzende Hilfe im Rahmen des RANA-Programms der Europäischen Union für Afghanistan zu erhalten. Mittellose Flüchtlinge hätten diese Chance nicht. Wer über keine Geldmittel verfüge oder keine Familienangehörigen im Land habe, vegetiere auf aller unterstem Niveau dahin, wenn er sich nicht der Drogenszene zuwende oder einer politischen Organisation wie den Taliban anschließe. Die Wasserversorgung in den Ruinen, Lagern und Slums, in denen Flüchtlinge hausten, sei völlig unzureichend. Oftmals müsse Wasser über viele Kilometer herangeschafft werden. Auch von einer gesundheitlichen Versorgung könne dort keine Rede sein.

In seiner Auskunft an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 04.12.2006 in dem Verfahren 8 UE 1913/06.A hat Dr. Danesch nochmals betont, dass zurückkehrende Flüchtlinge wegen in der Regel unzureichender Sprachkenntnisse nicht für qualifizierte Übersetzer- und Dolmetscheraufgaben in Frage kämen. Die Bundeswehr ziehe für anspruchsvolle Tätigkeiten entsprechend ausgebildete Fachleute heran, die sie in Deutschland anwerbe. Ähnlich gingen seines Wissens die in Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen vor. Die Deutsche Botschaft in Kabul komme schon aus Sicherheitsgründen nicht als Arbeitgeber für afghanische Flüchtlinge in Betracht. Soweit deutsche Soldaten auf ihren Patrouillen geringer qualifizierte Übersetzer benötigten, griffen sie auf Deutsch-Afghanen oder Deutsch-Iraner in ihren Reihen zurück, die einfachere Gespräche übersetzen könnten. Im Übrigen verzichte die Bundeswehr angesichts der wachsenden Terrorgefahr auch aus Sicherheitsgründen darauf, abgeschobene Asylbewerber als Dolmetscher einzusetzen. Die Anwesenheit internationaler Hilfsorganisationen in Kabul bedeute nicht, dass dort die Grundversorgung der Flüchtlinge mit Nahrungsmitteln und Wohnraum sichergestellt sei. Entgegen anderslautenden Angaben verhungerten in Kabul Tag für Tag Menschen.

Der vom OVG Berlin-Brandenburg am 27.03.2006 in den dort anhängigen Verfahren 12 B 9. und 11.05 als sachverständiger Zeuge vernommene Bedienstete des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge David hat demgegenüber zwar ausgesagt, dass auch aus Deutschland abgeschobenen Asylbewerbern im Rahmen des von der International Organisation for Migration (IOM) durchgeführten RANA-Programms der Europäischen Union für Afghanistan Hilfen zur Verfügung stünden. Das RANA-Programm ist jedoch nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes an die Kammer vom 31.01.2007 in dem Verfahren 3 E 1883/05.A Ende April 2007 endgültig ausgelaufen, so dass es hierauf nicht mehr ankommt.

In Anbetracht dieser Umstände ist davon auszugehen, dass jedenfalls der Kläger im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan in eine existenzielle Notlage geraten würde.

Denn der Kläger hat glaubhaft vorgetragen, dass er in Afghanistan nicht mehr über familiäre Beziehungen oder sonstige sozialen Bindungen verfügt, auf deren Unterstützung er zurückgreifen könnte.

Eine die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gebietende verfassungswidrige Schutzlücke in Bezug auf den Kläger ist auch nicht im Hinblick auf den Erlass des Hessischen Ministeriums des Inneren und für Sport vom 27.05.2005 zu verneinen. Der Kläger gehört nicht zu dem Personenkreis, der nach diesem Erlass ein Bleiberecht erhalten kann, da er sich weder zum 24.06.2005 seit mindestens sechs Jahren ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten hat noch er zu diesem Zeitpunkt das 65. Lebensjahr vollendet hatte. Alle diejenigen afghanischen Staatsangehörigen, die kein Bleiberecht erhalten können, sind nach der Erlassregelung zurückzuführen. Dabei zählt der Kläger zu dem vorrangig zurückzuführenden Personenkreis der alleinstehenden männlichen volljährigen afghanischen Staatsangehörigen. Angesichts dessen vermittelt der - mittlerweile zwei Jahre alte - Erlass jedenfalls heute keinen im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts "gleichwertigen Schutz" vor einer Abschiebung mehr.