OVG Hamburg

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Zitieren als:
OVG Hamburg, Beschluss vom 09.05.2007 - 4 Bs 241/06 - asyl.net: M10554
https://www.asyl.net/rsdb/M10554
Leitsatz:

§ 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist einschränkend dahin auszulegen, dass die Vorschrift nur für konstitutive Aufenthaltstitel gilt, nicht aber für die Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 5 AufenthG.

 

Schlagwörter: D (A), Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Assoziationsberechtigte, Familienangehörige, Enkel, Großeltern, Ausweisung, Suspensiveffekt, Ausreisepflicht, Vollziehbarkeit, Aufenthaltserlaubnis, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren)
Normen: ARB Nr. 1/80 Art. 7; AufenthG § 84 Abs. 2 S. 1; AufenthG § 4 Abs. 5; AufenthG § 50 Abs. 1; AufenthG § 84 Abs. 1 Nr. 1; VwGO § 123
Auszüge:

§ 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist einschränkend dahin auszulegen, dass die Vorschrift nur für konstitutive Aufenthaltstitel gilt, nicht aber für die Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 5 AufenthG.

(Amtlicher Leitsatz)

 

Die zulässige Beschwerde hat mit der aus dem Tenor ersichtlichen Einschränkung Erfolg.

a) Es ist gut möglich, dass sich der Antragsteller auf ein von seiner Großmutter abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Art. 7 ARB 1/80 berufen kann. Zu ihren Familienangehörigen gehörten seinerzeit entsprechend Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 vom 15. Oktober 1968 (ABl. L 257 S. 2) die Verwandten in absteigender Linie, die noch nicht 21 Jahre alt waren oder denen Unterhalt gewährt wurde, also bei häuslicher Gemeinschaft auch das Enkelkind (vgl. OVG Koblenz, Urt. v. 14.1.2005, InfAuslR 2005, 238; vgl. heute auch Art. 2 Nr. 2 Buchst. c der Richtlinie 2004/38/EG vom 29.4.2004, ABl. L 229 S. 35). Der Antragsteller dürfte im Sinne des Art. 7 ARB 1/80 auch die Genehmigung erhalten haben, zu seiner Großmutter zu ziehen. Nach der seinerzeit noch geltenden Vorschrift des § 2 Abs. 2 Nr. 1 AuslG 1965 bedurften Ausländer, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet keiner Aufenthaltserlaubnis. Diese erlaubnisfreie Einreise ist einer Zuzugsgenehmigung nach Art. 7 ARB 1/80 gleichzustellen (ebenso VGH Kassel, Beschl. v. 29.3.1995, InfAuslR 1995, 279 m.w.N.; a.A. OVG Hamburg, Beschl. v. 13.9.1995, Bs V 85/95, juris).

b) Es kann offen bleiben, ob dieses Aufenthaltsrecht durch Ausweisung erloschen ist. Ein Erlöschen käme in Betracht, wenn § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG auf Berechtigte nach dem ARB 1/80 Anwendung finden würde. Nach dieser Vorschrift lassen Widerspruch und Klage unbeschadet ihrer aufschiebenden Wirkung die Wirksamkeit der Ausweisung und eines sonstigen Verwaltungsakts, der die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts beendet, unberührt. Bedenken gegen eine Anwendbarkeit des § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG auf Berechtigte nach dem ARB 1/80 könnten sich daraus ergeben, dass die Vorschrift des § 84 AufenthG gemäß § 11 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU nicht für Unionsbürger gilt, der gemeinschaftsrechtliche Ausweisungsschutz für nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigte Türken jedoch möglichst in gleicher Weise ausgestaltet sein sollte wie für freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger (vgl. BVerwG, Urt. v. 3.8.2004, BVerwGE 121, 315, 320 ff.). Diese Bedenken können indessen dahinstehen. Selbst wenn das Aufenthaltsrecht durch eine wirksame Ausweisung nach § 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG erloschen und der Antragsteller deshalb gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG zur Ausreise verpflichtet sein sollte, wäre die Ausreisepflicht nicht vollziehbar. Gemäß § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist die Ausreisepflicht erst vollziehbar, wenn der Verwaltungsakt, durch den der Ausländer nach § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig wird, vollziehbar ist. Die Ausweisung ist indessen nicht vollziehbar, weil die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung nicht gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO im öffentlichen Interesse besonders angeordnet hat.

c) Eine vollziehbare Ausreisepflicht ergibt sich auch nicht daraus, dass die Antragsgegnerin es abgelehnt hat, dem Antragsteller gemäß § 4 Abs. 5 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis auszustellen.

Wer ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzt, bedarf nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG keines Aufenthaltstitels. Er ist nach § 4 Abs. 5 AufenthG lediglich verpflichtet, das Bestehen seines Aufenthaltsrechts durch den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nachzuweisen, die ihm auf Antrag ausgestellt wird. Mit diesen Vorschriften wird der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften Rechnung getragen (vgl. Urt. v. 16.3.2000, InfAuslR 2000, 217), wonach ARB-Berechtigte ein europarechtliches Aufenthaltsrecht besitzen. Es besteht unabhängig von der Aufenthaltserlaubnis. Diese besitzt nur deklaratorische Bedeutung. Das Aufenthaltsgesetz trägt dem dadurch Rechnung, dass die Aufenthaltserlaubnis für ARB-Berechtigte nicht - wie anderen Ausländern - konstitutiv "erteilt" (§ 5 AufenthG), sondern schlicht "ausgestellt" wird (§ 4 Abs. 5 Satz 2 AufenthG). Daraus ergibt sich, dass der Bestand des Aufenthaltsrechts nicht von der Ausstellung der Aufenthaltserlaubnis abhängig ist. Wird die Ausstellung versagt, ändert dies am Fortbestand des Aufenthaltsrechts nichts. Der Berechtigte wird dadurch insbesondere nicht ausreisepflichtig im Sinne des § 50 Abs. 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift ist der ARB-Berechtigte ausdrücklich (erst) zur Ausreise verpflichtet, wenn das Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 nicht oder nicht mehr besteht.

Etwas anderes ergibt sich nicht aus § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift haben Widerspruch und Klage gegen die Ablehnung eines Antrags auf Erteilung oder Verlängerung des Aufenthaltstitels keine aufschiebende Wirkung. Die fehlende aufschiebende Wirkung führt dazu, dass die nach § 50 Abs. 1 AufenthG bestehende Ausreisepflicht gemäß § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vollziehbar wird. § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist assoziationsrechtskonform einschränkend dahin auszulegen, dass die Vorschrift nur für konstitutive Aufenthaltstitel gilt, nicht aber für die Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG. Dafür spricht schon der Wortlaut der Vorschrift, in der von "Erteilung" und "Aufenthaltstitel" die Rede ist. Mit diesen Begriffen werden die Anforderungen umschrieben, denen gemäß § 4 Abs. 1 AufenthG sonstige Ausländer unterworfen sind, während den Berechtigten nach dem ARB 1/80, die schon im Besitz eines Aufenthaltsrechts sind, nach § 4 Abs. 5 AufenthG kein Titel erteilt, sondern nur ein Papier ausgestellt wird. Die Vorschrift des § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG lässt sich ferner sinnvoll nur auf konstitutive Aufenthaltstitel anwenden. Das zeigt sich an den im Zusammenhang mit § 50 Abs. 1 und § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG stehenden Rechtsfolgen. Die Versagung des konstitutiven Aufenthaltstitels führt gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG zum Verlust des Aufenthaltsrechts und zur Ausreisepflicht. Beide Rechtsfolgen treten nicht ein, wenn es allein an einer Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG fehlt. Auch der mit § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG verfolgte Gesetzeszweck, die Ausreisepflicht vollziehbar zu machen, lässt sich bei der Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG nicht verwirklichen, weil es bei Versagung der Aufenthaltserlaubnis dort schon an der Ausreisepflicht fehlt. § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG findet damit auf die Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG keine Anwendung (vgl. VG Karlsruhe, Beschl. v. 29.5.2006 - juris; a.A. Funke-Kaiser in: GK-AufenthG, Komm., § 84 Rdnr. 14; Jakober/Welte, AuslG, Komm., § 72 Rdnr. 13) und lässt den Bestand des Aufenthaltsrechts nach dem ARB 1/80 unberührt.

d) Bei dieser Sach- und Rechtslage ist dem Antragsteller gemäß § 123 VwGO Abschiebungsschutz zu gewähren.