OVG Rheinland-Pfalz

Merkliste
Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 15.07.2003 - 10 A 10168/03 - asyl.net: M10592
https://www.asyl.net/rsdb/M10592
Leitsatz:

Vorliegen der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 S. 1 AuslG, da die Klägerin bei Rückkehr in die Türkei aufgrund ihrer schweren Herzerkrankung einer extremen allgemeinen Gefahrenlage ausgesetzt ist.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, Herzerkrankung, medizinische Versorgung, Finanzierbarkeit, Kurden, Mitgabe von Medikamenten, Ausländerbehörde, Prüfungskompetenz, Grüne Karte, yesil kart, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage, Bevölkerungsgruppe
Normen: AuslG § 53 Abs. 6
Auszüge:

Die zulässige Berufung der Klägerin ist begründet. Das Verwaltungsgericht hätte ihre Klage auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des Vorliegens von Abschiebungshindernissen gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht abweisen dürfen; denn die Klägerin wäre in Anbetracht ihrer Herzerkrankung in der Türkei einer extremen allgemeinen Gefahrenlage ausgesetzt, die in ihrer Person - unbeschadet der Sperrwirkung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG - zu einem zwingenden Abschiebungshindernis führt, weil angesichts dieser Gefahrenlage ihre Abschiebung unter Würdigung des in ihrem Fall verfassungsrechtlich gebotenen Schutzes nicht verantwortet werden kann.

Denn in Anbetracht ihrer Herzerkrankung wäre sie dort binnen kürzester Zeit auf eine aufwändige medizinische Versorgung angewiesen, die für sie jedoch als Kind einer im Rahmen der Auseinandersetzungen zwischen der PKK und dem türkischen Staat vor Jahren aus den ländlichen Regionen der Südost-Türkei geflohenen Familie mangels der hierfür erforderlichen finanziellen Mittel wie auch mangels anderweitiger Kostenübernahme als Folge der angespannten wirtschaftlichen und unzulänglichen sozialen Verhältnisse in der Türkei nicht erreichbar wäre.

Mit Blick auf diese Krankheitsgeschichte kann es nicht zweifelhaft sein, dass die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr in die Türkei auch dort von Anfang an auf eine vergleichbar umfassende und auf Dauer angelegte medizinische Versorgung wie bislang in der Bundesrepublik angewiesen sein wird, andernfalls sie binnen kürzester Zeit in eine lebensbedrohliche Situation geraten würde. Dabei kann vorliegend dahinstehen, inwieweit die Klägerin bereits im unmittelbaren Zusammenhang mit der Vornahme des eigentlichen Abschiebungsvorganges in eine solche Situation geraten könnte (vgl. dazu die Stellungnahmen des Gesundheitsamtes N sowie des Facharztes für Allgemeinmedizin/Flugmedizin Dr. M, N, vom 11. September und 7. November 2001). Denn den daraus etwa resultierenden Abschiebungshindernissen Rechnung zu tragen, wäre allein Sache der Ausländerbehörde. Ebenso geht es vorliegend nicht etwa um die Frage, inwieweit es gegebenenfalls aus Anlass der Abschiebung ebenfalls noch Aufgabe der Ausländerbehörde sein kann, gleichsam im Wege einer Nachsorge für die Klägerin eine bei ihrer Ankunft gegebenenfalls akut benötigte ärztliche Versorgung sicherzustellen. Denn selbst wenn entsprechende Vorkehrungen erforderlich sein sollten, so könnten sie doch lediglich der Gewährleistung des Überganges der Klägerin in eine Erstbetreuung, nicht aber der Sicherstellung der von ihr benötigten weiterreichenden und auf Dauer angelegten medizinischen Versorgung dienen, auch wenn sie zeitnah nach der Rückkehr der Klägerin einsetzen müsste. Dem gemäß stellt die Gefahr der Nichtgewährleistung dieser zuletzt genannten Versorgung selbst dann bereits ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG dar, wenn - wie vom Verwaltungsgericht wegen der Dauer des Verfahrens zur Erteilung der Grünen Karte angenommen bzw. aber auch wegen der bei der konformen Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG vorausgesetzten Unmittelbarkeit der zu besorgenden Gefährdung - nur ein vergleichsweise kurzer Zeitraum von einigen Wochen bis hin zu zwei Monaten in den Blick zu nehmen wäre bzw. ist (vgl. BVerfG InfAuslR 1998, S. 242, VGH Mannheim, NVwZ-Beil. 2001, S. 6).

Da es nur in den drei großen Universitätskliniken des Landes in Ankara, Istanbul und Izmir Abteilungen für Kinderkardiologie und Herzchirurgie mit Behandlungsmöglichkeiten für Patienten mit nicht korrigierbaren zyanotischen Herzen gibt, wird sich die Familie mit der Klägerin zwangsläufig nur in einer dieser drei westlichen Großstädte der Türkei niederlassen können, um so der Klägerin überhaupt die Chance für einen entsprechenden tatsächlichen Zugang zu den dort für sie gewährleisteten umfassenden und fachspezifischen Betreuung zu eröffnen. Das aber bedeutet, dass die Familie in diesen Städten aller Voraussicht nach sowohl mit Blick auf ihre Vermögensverhältnisse wie auch mit Blick auf ihre Verdienstmöglichkeiten bei gleichzeitig erforderlicher Sicherstellung des Lebensunterhaltsbedarfs für insgesamt acht Personen jedenfalls bis auf weiteres nur in den dortigen Armutsquartieren wohnen können wird (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 20. März und 9. Oktober 2002). Was die Verdienstmöglichkeiten der Familie anbelangt, so werden diese allenfalls zu deren Existenzsicherung ausreichen. Dass etwa der Vater der Klägerin bereits in den ersten Wochen oder Monaten nach der Einreise gar einen gesicherten und zudem entsprechend gut bezahlten Arbeitsplatz finden wird, erscheint zumal vor dem Hintergrund der in der Türkei zu verzeichnenden hohen Arbeitslosigkeit zudem um so fernliegender, als dieser nur begrenzt der türkischen Sprache mächtig ist, nur unzureichend lesen und schreiben kann und ohne Berufsausbildung bislang lediglich von der Landwirtschaft gelebt hat.

In Anbetracht dessen könnte ein Überleben der Klägerin schon in den ersten Wochen nach ihrer Niederlassung in der Türkei allenfalls dann als vorstellbar angesehen werden, wenn ihr dort auch tatsächlich von Anfang an ein entsprechender unmittelbarer Zugang zu den solchermaßen benötigten Ärzten, Krankenhäusern und Universitätskliniken eröffnet wäre. Davon kann indessen keinesfalls ausgegangen werden, nachdem die Familie der Klägerin mit Blick auf ihre bereits oben erörterten Vermögens- bzw. Einkommensverhältnisse nicht einmal ansatzweise in der Lage sein wird, die damit einhergehenden Kosten zu tragen. In diesem Zusammenhang ist der Senat des weiteren davon überzeugt, dass die für die Klägerin solchermaßen bestehende extreme Gefahr, wegen fehlender Eigenmittel den erforderlichen Zugang zu der benötigten Versorgung und Behandlung ihrer Erkrankung in der Türkei nicht erlangen zu können, auch nicht dadurch gemindert wird, dass die Familie einen Anspruch auf Ausstellung der sogenannte Grünen Karte ("yesil kart") hat, die die Klägerin alsdann zu kostenloser medizinischer Versorgung im dortigen staatlichen Gesundheitssystem berechtigten würde. Wie sich insofern aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnissen des Senates ergibt, setzt die Erteilung der Grünen Karte ein bürokratisches Verfahren voraus, das mit der Registrierung des Bedürftigen am Wohnort beginnt sowie alsdann nach der Vorlage einer Bescheinigung über das Nichtbestehen anderweitigen Versicherungsschutzes zwei weitere Bestätigungen des Steueramtes und des für den früheren Wohnsitz zuständigen Dorfvorstehers über das Fehlen von Vermögen bzw. Besitz voraussetzt und bis zu zwei Monate dauern kann. Damit aber steht ernsthaft zu besorgen, dass selbst im Falle einer regulären Bearbeitung eines entsprechenden Antrages der Familie auf Erteilung dieser Grünen Karte die Klägerin nicht über die notwendigen finanziellen Mittel verfügen wird, um eine ihr schon in den ersten Wochen nach ihrer Rückkehr drohende Infektion behandeln lassen zu können.

Dass im Übrigen sowohl die Erlangung der Grünen Karte als auch deren Benutzung gerade für mittellose Personen nicht unproblematisch ist, weil auch für deren Ausstellung eine Gebühr zu entrichten ist bzw. die angerufenen Krankenhäuser gelegentlich dennoch auf einer finanziellen Mitbeteiligung der Patienten bestehen, sei nur noch am Rande erwähnt (vgl. zum Ganzen: Erkenntnisse des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom Dezember 1999, Februar 2002 und April 2003, Vertrauensarzt der Deutschen Botschaft vom 3. März 2000, Overdiek vom 27. April 2000, Taylan vom 13. Mai 2000, Deutsche Sektion der Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges/Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. vom 11. November 2001, Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 20. März und 9. November 2002 sowie Klinikum der Phillips-Universität Marburg, vom 16. Juli 2002).

Gegenüber diesen Feststellungen lässt sich auch nicht etwa einwenden, dass der Klägerin gerade während der Zeit bis zur Ausstellung der Grünen Karte die zusätzliche Möglichkeit eröffnet sei, über den Förderungsfond für Sozialhilfe und Solidarität finanzielle Zuwendungen zu erlangen. Tatsächlich gelten nämlich für den Erhalt dieser Leistungen im Grundsatz die gleichen Voraussetzungen wie für die Erteilung der Grünen Karte, so dass die Familie über diesen Fond aller Voraussicht nach allenfalls während der ersten Tage nach ihrer Niederlassung in der Türkei mit einem gewissen Übergangsgeld von 63,- EUR pro Tag rechnen kann, ihnen indes alsdann und darüber hinaus weitere Zuwendungen, wie sie für die Behandlung der Klägerin benötigt würden, versagt bleiben werden. Soweit es daneben schließlich auch noch die Möglichkeit von Zuwendungen durch religiöse Stiftungen geben mag, hilft dies der Klägerin gleichfalls nicht weiter, nachdem die Familie seit nunmehr rund neun Jahren in der Bundesrepublik lebt, weswegen ein Zugang zu einer solchen Stiftung eher spekulativ erscheint.

Zum Zwecke der Klarstellung sei abschließend nochmals betont, dass es der Senat - ungeachtet dessen, dass die vorliegend zu besorgende Gefährdung der Klägerin ihr insoweit lediglich individuell droht, als diese ihre Ursache in deren Herzfehler hat, ohne dass die Klägerin deshalb, auch wenn derartige Erkrankungen nicht singulär sein mögen, einer Bevölkerungsgruppe im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG zugeordnet werden kann (vgl. BVerwGE 105, S. 287) - dennoch als angezeigt erachtet hat, in verfassungskonformer Anwendung des § 53 Abs. 6 AuslG auf die oben dargestellten erhöhten Anforderungen hinsichtlich der Erheblichkeit, Konkretheit und Unmittelbarkeit jener Gefährdung abzustellen, da der Nichtzugang der Klägerin zu der von ihr wegen dieses Herzfehlers benötigten, in der Türkei zudem auch grundsätzlich vorhandenen aufwändigen medizinischen Versorgung letztlich seine Ursache in den allgemein schwierigen Lebensverhältnisse in der Türkei bzw. in den in besonderer Weise unzureichenden Lebensbedingungen gerade für im Zuge des PKK-Konfliktes aus den ländlichen Gebieten der Südost-Türkei geflohene kurdische Familien bei ihrer Niederlassung in den Großstädten der West-Türkei hat, die ihrerseits durchaus als eigenständige Bevölkerungsgruppe angesehen werden können (vgl. VGH München, Beschl. vom 10. Oktober 2000 - 25 B 99.32077 -, BVerwG, EZAR 043, Nr. 51 sowie Beschl. vom 29. April 2002 - 1 B 59/02 -).