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VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 30.04.2007 - A 2 K 12940/05 - asyl.net: M10610
https://www.asyl.net/rsdb/M10610
Leitsatz:

Nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Christen im Irak; keine inländische Fluchtalternative im Nordirak

 

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Christen, Gruppenverfolgung, Verfolgung durch Dritte, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgungsdichte, religiös motivierte Verfolgung, Sicherheitslage, Schutzfähigkeit, interne Fluchtalternative, Nordirak, Kurdisch-Islamische Union, KIU, Versorgungslage, Existenzminimum, Erreichbarkeit
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Nichtstaatliche Gruppenverfolgung von Christen im Irak; keine inländische Fluchtalternative im Nordirak

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässigen Klagen sind begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO). Den Klägern droht bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine religiös motivierte Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure.

I. Nach § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG sind die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG bzw. des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn ihre Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind.

1. Die Beklagte geht zwar zu Recht davon aus, dass die den widerrufenen Bescheiden zugrunde liegende Annahme, die Kläger hätten im Fall einer Rückkehr in den Irak wegen der Stellung eines Asylantrags im Ausland mit politischer Verfolgung im Sinne des § 51 Abs. 1 AuslG zu rechnen, auf Grund der veränderten Verhältnisse im Irak in Folge der amerikanischen Intervention hinfällig geworden ist.

2. Die Kläger können dennoch weiterhin Abschiebungsschutz beanspruchen, da ihnen aus anderen Gründen weiterhin Verfolgung in ihrem Heimatland droht. Nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnismitteln sind die im Irak lebenden Christen einer religiös motivierten Gruppenverfolgung durch islamistisch gesinnte Personen ausgesetzt.

b) An Hand dieser Maßstäbe unterliegen die im Irak lebenden Christen einer Gruppenverfolgung von Seiten islamistischer Kräfte als "nichtstaatliche Akteure" (BayVGH, Urt. v. 8.2.2007 - 23 B 06.30836 - Juris; a. M. OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 6.12.2006 - 10 A 10785105.OVG - Juris).

Die Lage der im Irak lebenden Christen, deren Zahl vom Auswärtigen Amt (Lagebericht vom 11.1.2007) mit 700.000 bis 800.000 angegeben wird, während der UNHCR in seiner Stellungnahme vom 6.2.2007 sowie das Europäische Zentrum für kurdische Studien (EZKS) in seiner Auskunft vom 24.4.2006 an das VG München von nur 250.000 bis 300.000 Personen sprechen, hat sich seit dem Einmarsch der Koalitionstruppen und dem Sturz des Saddam-Regimes im März 2003 drastisch verschlechtert. Art und Anzahl der Übergriffe sind durch verschiedene Erkenntnisquellen, wie die Lageberichte des Auswärtigen Amtes und die Stellungnahmen des Deutschen Orient-Instituts, des Europäischen Zentrums für kurdische Studien, des UNHCR und von amnesty international in vielfältiger Weise dokumentiert. In besonderem Maße gefährdet sind prominente religiöse und politische Fürsprecher, jedoch werden auch einfache Mitglieder christlicher und anderer religiöser Minderheiten vielfach Opfer gezielter Übergriffe, die von Bedrohung, Einschüchterung, Entführungen, bewaffnetem Raub, der Zerstörung oder Beschlagnahme von Eigentum (einschließlich Immobilien) über Zwangskonversion und Zwangsverheiratungen christlicher Frauen mit muslimischen Männern bis hin zu gewaltsamen - häufig extrem brutalen - Tötungen und Vergewaltigungen reichen. Hinzu kommen Diskriminierungen bei der Arbeitssuche und Stellenvergabe, Angriffe auf von Christen betriebene Geschäfte, Restaurants oder andere Kleinunternehmen, die die Betroffenen häufig jeder wirtschaftlichen Existenzgrundlage berauben. Die Urheber dieser Übergriffe sind islamische fundamentalistische Personen und Gruppierungen, sonstige aufständische Gruppen sowie kriminelle Banden (Stellungnahmen des UNHCR vom 6.2.2007, des Deutschen Orientinstituts vom 3.5.2006 und 14.2.2005, des EZKS vom 24.4.2006 sowie von amnesty international vom 29.6.2005).

Die Gründe für die Nachstellungen, in deren Folge derzeit wöchentlich ungefähr 4.000 Christen den Irak in Richtung Syrien verlassen (Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 11.1.2007, S. 22), liegen im Klima der verstärkten Hinwendung zu streng islamischen Traditionen und Glaubensgrundsätzen, die zu wachsender Ausgrenzung und zunehmendem Druck gegenüber den Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften führt (vgl. UNHCR vom 6.2.2007; amnesty international vom 29.6.2005, 5, 12). Auch werden Christen wegen ihrer Religionszugehörigkeit von vielen Irakern als Kollaborateure der amerikanischen Streitkräfte angesehen und deswegen für die gegenwärtige Situation im Irak mitverantwortlich gemacht (EZKS vom 24.4.2006; UNHCR, Hintergrundinformation zur Situation der christlichen Bevölkerung im Irak, Stand Juni 2006, S. 8; Deutsches Orientinstitut vom 3.5. und 6.6.2006).

Die Zahl der Straftaten zu Lasten von Christen kann allerdings nicht isoliert gesehen werden, sondern ist vor dem Hintergrund insgesamt verheerenden Sicherheitslage im Irak zu bewerten. Die vorliegenden Berichte lassen jedoch darauf schließen, dass die Angehörigen nichtmuslimischer Minderheiten im Irak, bezogen auf ihren Anteil an der irakischen Gesamtbevölkerung, überproportional häufig Ziel von Übergriffen und Anschlägen werden, so dass für jeden im Irak lebenden Christen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (ebenso BayVGH, Urt. v. 8.2.2007 - 23 B 06.30836 - Juris; a. M. OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 6.12.2006 - 10 A 10785105.OVG - Juris).

Der irakische Staat sowie die im Irak stationierten multinationalen Truppen sind erwiesenermaßen nicht in der Lage, Schutz vor der Verfolgung der Christen durch islamistische Kräfte zu bieten. Die irakische Polizei ist in erheblichem Maß durch Aufständische und einzelne Milizen unterwandert. Ihre Einsetzbarkeit wird vom Auswärtigen Amt (Lagebericht vom 11.1.2007, S. 13) als äußerst begrenzt bezeichnet. Staatlicher Schutz gegen die genannten religiös motivierten Übergriffe kann daher nicht erlangt werden; eine Verfolgung von einzelnen Straftaten findet so gut wie nicht statt (Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 11.1.2007, S. 21). Die im Irak stationierten multinationalen Truppen sind zwar bemüht, die katastrophale Sicherheitslage zu verbessern. Ein wirksamer Schutz kann jedoch auch von ihnen nicht gewährt werden.

c) Eine innerstaatliche Fluchtalternative steht den Klägern nicht zur Verfügung.

Nach den vorliegenden Erkenntnisquellen ist zwar davon auszugehen, dass die Sicherheitslage für Christen in den kurdisch verwalteten Gebieten im Nordirak wesentlich günstiger ist als in den übrigen Gebieten des Irak. Wegen der starken Präsenz der kurdisch-islamischen Union (KIU) ist jedoch auch im Nordirak die Lage für Christen keineswegs unproblematisch. Diese Gruppierung, die vor allem in den überwiegend kurdisch besiedelten Städten Mosul und Dohuk aktiv ist, will einen unabhängigen kurdisch-islamischen Staat schaffen und vertritt gegenüber den in der Region aktiven irakischen und ausländischen Christen extreme Positionen. So hat die KIU christliche Gruppierungen mehrfach der Zersetzung des Islams bezichtigt und deshalb entsprechend der Regelung der Scharia die Vollstreckung der Todesstrafe an den Angehörigen dieser Gruppierungen gefordert (UNHCR, Hintergrundinformation zur Situation der christlichen Bevölkerung im Irak, Stand Juni 2006, S. 10). Christen aus dem Nordirak berichten darüber hinaus häufig von spürbarer, alltäglicher Intoleranz bis hin zu physischen Angriffen der mehrheitlich islamischen Bevölkerung, insbesondere gegen Konvertiten und Personen, die der Mitwirkung an Konversionshandlungen bezichtigt werden. Gottesdienste finden auch im Nordirak grundsätzlich nur in privaten Räumlichkeiten statt. Hinzukommt eine offenbar stark angespannte Versorgungslage infolge der großen Zahl von Binnenflüchtlingen, welche die Aufnahmekapazitäten in dieser Region drastisch begrenzen. Für Iraker ohne verwandtschaftliche oder sonstige enge soziale Beziehungen zu dort lebenden Personen bestehen deshalb erhebliche Schwierigkeiten, für sich und ihre Familie das Existenzminimum zu sichern (UNHCR vom 6.2.2007).

Den vorliegenden Erkenntnisquellen ist weiter zu entnehmen, dass die unter kurdischer Verwaltung stehenden Gebiete im Nordirak derzeit für Iraker aus anderen Teilen des Landes nur eingeschränkt zugänglich sind. Im Gutachten des UNHCR vom 6.9.2005 heißt es, eine Einreise in den Nordirak sei nur unter strenger Kontrolle der dortigen Behörden möglich. Die Personen, denen die Einreise in die kurdisch kontrollierten Gebiete gestattet worden sei, müssten sich förmlich um eine Aufenthaltserlaubnis bewerben, die rechtliche Mindestvoraussetzung für die Inanspruchnahme grundlegender sozialer Rechte sei. Nichtkurdische Aufenthaltsbewerber müssten in allen drei Provinzen einen kurdischen Sponsor benennen, der Unterhalt und Unterbringung der Betroffenen garantiere.

Davon, dass Christen, die vor einer drohenden Verfolgung im Zentral- oder Südirak zu fliehen versuchen, in den drei unter kurdischer Verwaltung stehenden nordirakischen Provinzen ausreichenden Schutz und zumutbare Lebensumstände vorfinden, kann danach nur dann ausgegangen werden, wenn sie aus dieser Gegend stammen oder über enge familiäre oder sonstige soziale Beziehungen zu dort ansässigen Personen verfügen (ebenso BayVGH, Urt. v. 8.2.2007 - 23 B 06.30836 - Juris; a. M. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 21.6.2006 - A 2 S 571/05 - AuAS 2006, 175).