VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 20.04.2007 - A 9 K 13497/05 - asyl.net: M10617
https://www.asyl.net/rsdb/M10617
Leitsatz:

Verfolgungsgefahr für Christen aus Basra; keine inländische Fluchtalternative im Nordirak

 

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Machtwechsel, Baath, Änderung der Sachlage, Christen, religiös motivierte Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Religion, religiöses Existenzminimum, Verfolgungshandlung, Verfolgungsbegriff, Basra, interne Fluchtalternative, Nordirak, Existenzminimum, Kurdisch-Islamische Union, KIU, KDP, PUK
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 10 Abs. 1 Bst. b; RL 2004/83/EG Art. 9 Abs. 1
Auszüge:

Verfolgungsgefahr für Christen aus Basra; keine inländische Fluchtalternative im Nordirak

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die zulässige Klage, über die trotz Ausbleibens Beteiligter in der mündlichen Verhandlung hat entschieden werden können (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Voraussetzungen für den Widerruf liegen nicht vor.

Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) liegen beim Kläger die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 1 AufenthG vor.

Mit dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Urteil vom 4.5.2006 - A 2 5 1046/05 -) ist die Kammer in ständiger Rechtsprechung aufgrund der vorhandenen Erkenntnismittel der Überzeugung, dass ein irakischer Staatsangehöriger nicht mehr politisch erhebliche Verfolgung durch das Baath-Regime befürchten muss.

Dem Kläger droht aber mit der geforderten beachtlichen Wahrscheinlichkeit nichtstaatliche Verfolgung, weil er als Einzelner in seiner Religionsausübung betroffen ist.

Zu dieser persönlichen Betroffenheit hat die Berichterstatterin den Kläger in der mündlichen Verhandlung angehört. Er hat nachvollziehbar dargelegt, dass er vor seiner Ausreise bereits Mitglied einer Kirchengemeinde war und Gottesdienste besucht hat. Außerdem hat er kirchlich geheiratet. Diese Angaben lassen Rückschlüsse auf eine personelle religiöse Betroffenheit zu, wie im Übrigen auch die Zugehörigkeit des Klägers zu einer christlichen Gemeinde im Bundesgebiet. Christen, die - wie der Kläger - aus Basra stammen, werden dort auch wegen ihrer Glaubensbetätigung allgemein verfolgt. Religiös motivierte Verfolgung ist auch Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1, 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/83/EG. Nach Art. 10 Abs. 1 b dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Verfolgungsgründe, dass der Begriff der Religion u.a. die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten und öffentlichen Bereich umfasst. Mit diesem Inhalt wird auch der Schutz vor Verfolgung auf solche Maßnahmen ausgedehnt, die an die öffentliche Glaubensbetätigung anknüpfen (VGH Bad.-Württ., Urteil vom 21.6.2006 - A 2 S 571/05 -). Allerdings ist nicht jede Diskriminierung in dem so verstandenen religiösen Schutzbereich zugleich auch Verfolgung wegen der Religion. Sie muss vielmehr das Maß überschreiten, das lediglich zu einer durch die Diskriminierung eintretenden Bevorzugung anderer führt, sich mithin also als ernsthafter Eingriff in die Religionsfreiheit darstellt (dazu Marx, AsylVfG, 6. A., § 1 RdNr. 212 m.w.N.). Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn die auf die - häuslich-private, aber auch öffentliche - Religionsausübung gerichtete Maßnahme zugleich auch mit Gefahr für Leib und Leben verbunden ist oder zu einer dem entsprechenden "Ausgrenzung" führt (vgl. dazu auch Marx, a.a.O., RdNr. 208 f. m.w.N.). Mit dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Urteil vom 21.6.2006 - A 2 S 571105 -) ist das Gericht aufgrund der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel in ständiger Rechtsprechung der Überzeugung, dass im Fall eines irakischen Christen, der aus Bagdad kommt, von dieser Eingriffsschwere auszugehen ist. Gleiches gilt für den aus Basra stammenden Kläger. Es kann nicht festgestellt werden, dass sich die Lage für ihn abweichend darstellt. Im neuesten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11. Januar 2007 wird die Lage der irakischen Christen noch schlechter gesehen als in den früheren Berichten. Danach hat sich mittlerweile die Lage in Bagdad, Basra und Mosul für Christen deutlich verschlechtert.

Dem Kläger ist in den kurdisch regierten Landesteilen im Norden des Iraks auch keine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne von § 60 Abs. 1 Buchst. c AufenthG eröffnet.

Der Verwaltungsgerichthof Baden-Württemberg ist in dem von ihm zu entscheidenden Fall zu dem Ergebnis gelangt, dass dem dortigen Kläger eine solche inländische Fluchtalternative zur Verfügung steht.

Nach Einschätzung des Gerichts besteht im hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung für den Kläger im hier zu entscheidenden Einzelfall keine inländische Fluchtalternative. Denn nach neuesten Auskünften hat sich die Lage verschlechtert. So führt der UNHCR in einer Stellungnahme vom 5.7.2006 aus: "Ungeachtet der insgesamt etwas stabileren Verhältnisse in den drei unter kurdischer Verwaltung stehenden Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaimaniya wird aber auch aus diesen Gebieten immer wieder von antichristlichen Aktivitäten berichtet. ... Zusätzliche Probleme erwachsen irakischen Christen im gesamten Nordirak aus der starken Präsenz der Kurdisch-Islamischen Union (KIU). Die KIU, die vor allem in den überwiegend kurdisch besiedelten Städten Mosul und Dohuk aktiv ist, hat sich die Schaffung eines unabhängigen kurdisch-islamischen Staates zum Ziel gesetzt und vertritt gegenüber den in der Region aktiven irakischen und ausländischen Christen extreme Positionen. Aufgrund von Anschlägen und anhaltenden Drohungen verschiedener politischer Gruppierungen gegenüber der christlichen Bevölkerungsminderheit werden die christlichen Kirchen in Erbil, Sulaimaniya und Dohuk derzeit nicht genutzt und tragen keinerlei äußerlich sichtbare Zeichen, die sie als christliche Gotteshäuser erkennbar werden lassen, Gottesdienste finden auch im Nordirak grundsätzlich nur in privaten Räumlichkeiten statt. Es kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass Christen, die einer drohenden Verfolgung im Zentral- oder Südirak zu entfliehen versuchen, in den drei unter kurdischer Verwaltung stehenden nordirakischen Provinzen ausreichenden Schutz und zumutbare Lebensumstände vorfinden. Der Nordirak stellt vor diesem Hintergrund für Christen aus dem Zentral- und Südirak keine inländische Fluchtalternative dar." Das Auswärtige Amt führt im Lagebericht vom 29.6.2006 aus, gerade in der Ninive-Ebene, einer Region nördlich und östlich Mosuls, wo traditionell bis heute viele Christen lebten, sei es in jüngster Zeit zu Übergriffen und der Einschränkung von Rechten christlicher Rückkehrer durch Vertreter der beiden Kurdenparteien KDP und PUK gekommen, die in dieser Region faktisch Staatsaufgaben wahrnehmen. Die Menschenrechtslage in den drei kurdischen Provinzen hebe sich von dem Bild im Restirak nicht positiv ab. Unter Berücksichtigung dieser neuesten Auskunftslage steht der Nordirak für den Kläger, der keine Beziehungen dorthin hat und auch nicht kurdisch spricht, nach Überzeugung des Gerichts nicht als inländische Fluchtalternative zur Verfügung.

Das Deutsche Orient-Institut geht sogar davon aus, dass der Nordirak für eine arabische Familie aus Bagdad (unabhängig von der Religionszugehörigkeit) ausscheidet (Auskunft vom 1.9.2006 an VG Ansbach). Gleiches muss für den aus Basra stammenden Kläger gelten.