BlueSky

VG Ansbach

Merkliste
Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 23.03.2007 - AN 4 K 07.30199 - asyl.net: M10681
https://www.asyl.net/rsdb/M10681
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Christen, Gruppenverfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, Sicherheitslage, Übergriffe, religiös motivierte Verfolgung, Nordirak, interne Fluchtalternative, KIU, Kurdisch-Islamische Union
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet.

Gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG - sowohl in der ab 1. Januar 2003, als auch in der ab 1. Januar 2005 geltenden Fassung - ist die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (nunmehr: § 60 Abs. 1 AufenthG) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nachträglich weggefallen sind.

Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass § 60 Abs. 1 AufenthG weiter gefasst ist als die seinerzeit in § 51 Abs. 1 AuslG enthaltene Vorgängerregelung, hat der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) Anspruch auf Abschiebungsschutz. Nach der seit 1. Januar 2005 geltenden Rechtslage sind nämlich nach Maßgabe von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c AufenthG bei der Prüfung, ob relevante Verfolgungsgefahren vorliegen, auch Maßnahmen nichtstaatlicher Akteure zu berücksichtigen, sofern die staatlichen oder staatsähnlichen Stellen im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstaben a und b AufenthG einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht, es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative. Das Bundesverwaltungsgericht hat dazu, konkret bezogen auf die Christen im Irak, mit Urteil vom 18. Juli 2006, Az. 1 C 15.05, DVBl 2006, 1512, entschieden, dass insoweit auch deren Verfolgung im Irak durch fundamentalistische Muslime und andere private Dritte in den Blick zu nehmen und im Rahmen der stets erforderlichen Gesamtschau aller asylrelevanten Bedrohungen zu würdigen ist. Darüber, ob die in § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchst. c AufenthG geregelten Voraussetzungen im konkreten Fall vorliegen, ist laut Bundesverwaltungsgericht a.a.O. von den Tatsachengerichten auf Grund wertender Betrachtung im Sinne der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden.

Unter Zugrundelegung dieser und anderer einschlägiger Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts, insbesondere zu den Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung, hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Urteilen jeweils vom 8. Februar 2007, Az. 23 B 06.31053 u. a., 23 B 06.30866, 23 B 06.30883 und 23 B 06.30884 entschieden, dass nach den zwischenzeitlich im Irak stattgefundenen politischen Veränderungen irakische Staatsangehörige zwar wegen ihrer Asylanträge und ihrer illegalen Ausreise nunmehr mit hinreichenderWahrscheinlichkeit keine politischen Verfolgungsmaßnahmen mehr befürchten müssen. Soweit es sich um Angehörige der christlichen Minderheit handelt, drohen ihnen jedoch nunmehr mit beachtlicherWahrscheinlichkeit von Seiten so genannter nichtstaatlicher Akteure schwere Eingriffe, wie Mord, Verstümmelung oder andere schwere Rechtsverletzungen, die als Gruppenverfolgung zu werten sind.

Landesweit ereignen sich konfessionsmotivierte Verbrechen, staatlicher Schutz gegen Übergriffe militanter Opposition, Todesschwadronen und irakischer Guerilla kann nicht erlangt werden. Eine Verfolgung von einzelnen Straftaten findet so gut wie nicht statt. Gerade die Lage der christlichen Bevölkerung hat sich seit der internationalen Militäraktion Ende März 2003 drastisch verschlechtert. Nicht nur prominente religiöse und politische Fürsprecher der Christen werden regelmäßig Opfer gezielter Übergriffe, sondern auch einfache Mitglieder christlicher und anderer religiöser Minderheiten. Diese Übergriffe reichen von Bedrohung, Einschüchterung, Entführung, bewaffnetem Raub, der Zerstörung oder Beschlagnahme von Eigentum über Zwangskonversion und Zwangsverheiratung christlicher Frauen mit muslimischen Männern bis hin zu gewaltsamen Tötungen und Vergewaltigungen. Urheber solcher Übergriffe sind nichtstaatliche, islamische fundamentalistische Gruppen und Einzeltäter, aufständische sonstige Gruppen und kriminelle Banden, im kurdischen Norden sogar auch staatliche Akteure, wie Peshmerga-Einheiten.

Nach den vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof berücksichtigten Erkenntnisquellen knüpfen diese Übergriffe, Anschläge und Drohungen gegenüber Christen alternativ oder kumulativ an deren Religionszugehörigkeit, an ihre tatsächliche oder vermeintliche politische Überzeugung, an ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihre Volkszugehörigkeit an. Grundsätzlich spielt es hinsichtlich der Verfolgungsgefahr keine Rolle, welcher konfessionellen Gruppe von Christen eine Person zugehört. Christen werden wegen ihrer Religionszugehörigkeit von fundamentalistischen Gruppen als "Handlanger der amerikanischen Streitkräfte" angesehen und deswegen verfolgt.

Auch im weitgehend kurdisch beherrschten Nordirak steht den Christen - möglicherweise vorbehaltlich besonderer Ausnahmefälle; ein solcher liegt hier aber jedoch nicht vor - keine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 4 Buchstabe c a.E. AufenthG offen. Die Zuwanderung bzw. Rückkehr in den kurdisch verwalteten Nordirak ist nach den vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ausgewerteten Erkenntnisquellen allenfalls solchen Irakern möglich, die aus dem Nordirak stammen und dort ihre Großfamilie bzw. Sippe haben. Zusätzliche Probleme erwachsen irakischen Christen im gesamten Nordirak, auch außerhalb der kurdisch verwalteten Provinzen, aus der starken Präsenz der Kurdisch-Islamischen Union (KIU), die gegenüber Christen eine extreme islamistische Position einnimmt.

Dieser vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in den oben genannten Urteilen ausführlich dargelegten und überzeugend begründeten Bewertung schließt sich das erkennende Verwaltungsgericht vollinhaltlich an und macht sie sich zu eigen.