VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 20.03.2007 - AN 1 K 06.30862 - asyl.net: M10703
https://www.asyl.net/rsdb/M10703
Leitsatz:
Schlagwörter: Türkei, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Reformen, politische Entwicklung, Sippenhaft, Folter, Situation bei Rückkehr
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Die zulässige Klage ist begründet.

Dem Widerruf der mit Bescheid vom 29. März 2000 getroffenen Feststellung, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG a. F. hinsichtlich der Türkei vorliegen, steht die Rechtskraft des verwaltungsgerichtlichen Urteils vom 25. November 1999 AN 16 K 95.32419 entgegen.

Nach § 73 Abs. 1 AsylVfG ist die Entscheidung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (bis zum 31. Dezember 2004: Abschiebungsverbot nach § 51 Abs. 1 AuslG) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen.

Zunächst fällt bereits auf, dass das Bundesamt die Einleitung des Widerrufsverfahrens auf eine unzutreffende Begründung gestützt hat. So ist in der Verfügung vom 12. April 2005 dargelegt, Sippenhaft bestünde in der Türkei nicht mehr in der Form, wie sie das Verwaltungsgericht Ansbach in seinem Urteil angenommen habe.

Das Verwaltungsgericht Ansbach hat dem Kläger jedoch Abschiebungsschutz nicht unter dem Gesichtspunkt drohender Sippenhaft zugesprochen.

Das Verwaltungsgericht Ansbach hat seine Entscheidung vielmehr darauf gestützt, angesichts des gehäuften Auftretens der Familie des Klägers in den Sendungen von ... und ..., der persönlichen Stellungnahmen der Eltern des Klägers sowie der Schwester ... und insbesondere das Auftreten der Letzteren zusammen mit Öcalan könne mit größter Sicherheit davon ausgegangen werden, dass ihre politischen Aktivitäten den türkischen Behörden bekannt geworden seien. Insbesondere die Schwester ... werde mit Sicherheit als Terroristin gesucht. Unter diesen Umständen müssten der Kläger und seine Familie bei einer Rückkehr in die Türkei damit rechnen, sofort nach der Landung auf dem Flughafen von der Polizei festgenommen zu werden. Angesichts der dann mit Sicherheit bekannt werdenden politischen Belastung des Klägers und seiner Familie drohten ihm dann mit großer Wahrscheinlichkeit nachhaltige Befragungen mit der sehr großen Gefahr der Anwendung der Folter und nachfolgend strafrechtliche Verfolgung, die alleine an seine politische Überzeugung anknüpfe und eine politische Verfolgung darstelle.

Eine grundlegende Änderung der Verhältnisse in der Türkei, welche eine andere Bewertung rechtfertigen könnte, als sie dem rechtskräftigen Verpflichtungsurteil zu entnehmen ist, ist zumindest bisher nicht eingetreten.

Zwar hat die Türkei die politischen Kopenhagener Kriterien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nach Feststellung des Europäischen Rates hinreichend erfüllt. So sind nachdrückliche Anstrengungen unternommen worden, die Anwendung von Folter zu unterbinden. Dennoch kann nicht ohne Einschränkung davon ausgegangen werden, dass eine menschenrechtswidrige Behandlung durch türkische Sicherheitsorgane in der Praxis unterbleibt (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 14.9.2006 - 11 LA 43/06; Urteil vom 18.7.2006 - 11 LB 264/05; OVG NRW, Urteil vom 14.2.2006 - 15 A 2202/00.A; zu den Reformbemühungen und zur fortbestehenden Rückkehrgefährdung vgl. auch OVG NRW, Urteil vom 19.4.2005 - 8 A 273/04.A; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 29.11.2004 - 3 L 66/00; vgl. auch Serafettin Kaya vom 8.8.2005 an das VG Sigmaringen und vom 10.9.2005 an das VG Magdeburg, S. 8; Helmut Oberdiek vom 2.8.2005 an das VG Sigmaringen).

Von einer verfestigten und nachhaltigen Veränderung der Sicherheitslage in der Türkei als Voraussetzung für eine Durchbrechung der Rechtskraft des Urteils vom 25. November 1999 kann bei dieser Auskunftslage somit (noch) nicht gesprochen werden (vgl. VG Düsseldorf, Urteile vom 24.1.2007 - 20 K 4697/05.A; vom 19.9.2006 - 26 K 3635/06.A, vom 28.6.2006 - 20 K 5937/04.A und vom 12.5.2006 - 26 K 1715/06.A.; VG Berlin, Urteil vom 13.10.2006 - VG 36 X 67.06).