VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 27.02.2007 - 1 X 30.05 - asyl.net: M10788
https://www.asyl.net/rsdb/M10788
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung einer jungen Frau nach Genitalverstümmelung und wegen Gefahr der Zwangsheirat

 

Schlagwörter: Guinea, Verfolgung durch Dritte, mittelbare Verfolgung, Genitalverstümmelung, geschlechtsspezifische Verfolgung, Flüchtlingsfrauen, Zwangsheirat, Schutzbereitschaft, herabgestufter Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Glaubwürdigkeit, Kinder
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1
Auszüge:

Flüchtlingsanerkennung einer jungen Frau nach Genitalverstümmelung und wegen Gefahr der Zwangsheirat

(Leitsatz der Redaktion)

 

Die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG liegen hinsichtlich Guineas vor.

Hier ist die Klägerin vorverfolgt aus Guinea ausgereist.

Eine Genitalverstümmelung kann eine mittelbare staatliche Verfolgung darstellen, wenn die betroffene junge Frau der Beschneidung nicht ausweichen kann und der betroffene Staat nicht wirksam gegen die weibliche Genitalverstümmelung vorgeht (vgl. Urteil der Kammer vom 10. September 2003 - VG 1 X 23.03). Nach der Auskunft des Instituts für Afrika-Kunde vom 9. Oktober 2003 und des Auswärtigen Amtes vom 25. September 2003 an das Verwaltungsgericht Freiburg sind in Guinea 90 bis 99 Prozent der Mädchen und Frauen von der weiblichen Genitalverstümmelung betroffen. Sie wird unabhängig von der Religionszugehörigkeit von allen Stämmen in allen Landesteilen praktiziert. Sie wird meist an Mädchen im Alter von 10 bis 12 Jahren vollzogen. Es handelt sich um einen obligatorischen Ritus, mit dem die Mädchen die Rechte einer Frau erhalten. Sie ist aus Sicht der Eltern Bestandteil der elterlichen Verantwortung, nach der es ihre Aufgabe ist, dem Mädchen auch einen angemessenen Ehepartner zu vermitteln. Der Staat bekämpft die Genitalverstümmelung zwar offiziell, in der Praxis erfolgt aber keine Strafverfolgung.

Eine drohende Zwangsheirat kann eine mittelbare staatliche Verfolgung darstellen, wenn die betroffene junge Frau einer erzwungenen Heirat nicht ausweichen kann und der betroffene Staat nicht wirksam dagegen vorgeht. Von einer Zwangsheirat kann nur die Rede sein, wenn die junge Frau gegen ihren erklärten Willen verheiratet werden soll und nicht nur lediglich sozialer Druck, sondern psychische oder physische Gewalt angedroht oder angewandt wird, um ihren Willen zu brechen. Nur in diesem Fall kann von einer Verfolgung in Anknüpfung an das Geschlecht gesprochen werden, die das Selbstbestimmungsrecht und die Freiheit der jungen Frau empfindlich beeinträchtigt. Nach der in das Verfahren eingeführten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 29. November 2004 und des Instituts für Afrika-Kunde vom 3. Dezember 2004 an das VG Arnsberg sind Zwangsverheiratungen in Guinea üblich. Die Zwangsehe ist zwar staatlich verboten, wird aber vom Staat nicht verhindert. Es ist unwahrscheinlich, dass sich Mädchen oder junge Frauen einer Zwangsverheiratung durch Wohnsitzwechsel entziehen können, auch wenn sie nach Auskunft des Auswärtigen Amtes Unterstützung durch karitative Organisationen erhalten können.

Die Klägerin wurde nachweislich etwa Ende 2003/Anfang 2004 beschnitten. Diese Beschneidung ist als Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG zu qualifizieren, auch wenn sie nicht kausal für die Ausreise der Klägerin war. Mit der Vollendung des Eingriffs bestand keine Gefahr für die Zukunft mehr. Die Klägerin hat aber in der mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert, dass ihre Stiefmutter sie so schnell wie möglich verheiraten wollte und nur noch warten musste, weil ihre Brüste noch nicht ausreichend entwickelt waren. Entgegen der Einschätzung der Beklagten drohte die Gefahr einer gegen den Willen der Klägerin erzwungenen Heirat durchaus schon unmittelbar, da die Klägerin bei ununterbrochenem Geschehensablauf innerhalb weniger Monate in eine ausweglose Zwangslage geraten wäre, deren sie sich nicht aus eigener Kraft hätte entziehen können. Weder Verwandte noch staatliche Stellen hätten ihr geholfen, sich aus dieser Zwangslage zu befreien. Eine Fluchtalternative im Land bestand nicht. Zwangsbeschneidung und Zwangsheirat sind im vorliegenden Fall als einheitlicher Lebensvorgang mit derselben Zielrichtung zu verstehen, die aus der Sicht der Stiefmutter den sozialen Gebräuchen des Landes zur Integration einer jungen Frau in die Gesellschaft der Erwachsenen entspricht, aber aus Sicht des deutschen Abschiebungsschutzes als Verfolgung in Anknüpfung an das Geschlecht und als erhebliche Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit und der Freiheit der jungen Frauen zu qualifizieren ist.