OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.02.2007 - 11 S 87.06 - asyl.net: M10791
https://www.asyl.net/rsdb/M10791
Leitsatz:
Schlagwörter: D (A), Libanon, Libanesen, Türkei, Türken, Staatsangehörigkeit, Duldung, Abschiebungshindernis, inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse, Schutz von Ehe und Familie, Privatleben, Verhältnismäßigkeit, Integration, Situation bei Rückkehr, Staatenlose, Kurden, vorläufiger Rechtsschutz (Eilverfahren), einstweilige Anordnung
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2; GG Art. 6 Abs. 1; EMRK Art. 8; VwGO § 123
Auszüge:

Der Senat geht wegen der die bislang nicht hinreichend aufgeklärten aufenthaltsrechtlichen Rechtsstellung und Staatsangehörigkeit der Kinder und Kindesmutter des Antragstellers davon aus, dass diesem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Anspruch auf eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) gemäß § 60 a Abs. 2 AufenthG zusteht, jedenfalls eine Interessenabwägung zunächst für einen weiteren Verbleib des Antragstellers bei seiner Familie spricht (vgl. zum Prüfungsumfang zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bei grundrechtsrelevanten Beeinträchtigungen nur BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 -, NVwZ 2005, 927 ff.). Ergeht die einstweilige Anordnung nicht, erweist sich das Aufenthaltsbegehren später jedoch als begründet, so entstünde voraussichtlich jedenfalls dem Antragsteller durch den Vollzug der Abschiebung mit Blick auf die nach Auffassung des Senats nicht hinreichend verlässlich abschätzbare Dauer der Trennung von seiner Familie ein schwerer Nachteil, der die Nachteile für die öffentliche Hand durch den zunächst verlängerten Aufenthalt des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland überwiegt.

Eine rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise im Hinblick auf das Recht auf Achtung des Familienlebens aus Art 6 GG oder Art. 8 Abs. 1 EMRK (zur Reichweite der Schutzwirkung des Art. 8 EMRK, soweit sein Anwendungsbereich sich mit dem des Art. 6 GG deckt: vgl. BVerwG, Urteile vom 9. Dezember 1997 - 1 C 19 u 20.96 -, InfAuslR 1998, 272 ff. und 276 ff.; zum Ausschluss inlandsbezogener Tatbestände der EMRK aus dem Geltungsbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG vgl. zu § 53 Abs. 4 AuslG: BVerwG, Urteil vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 -, BVerwGE 105, 322, 325) besteht allerdings regelmäßig nicht, wenn der gesamten Familie ein Aufenthaltsrecht in Deutschland nicht zusteht und alle Familienmitglieder in ihr Heimatland zurückkehren müssen. Denn aus Art. 6 GG folgt nicht die unbedingte Verpflichtung des Staates, dem Wunsch ausländischer Familienmitglieder auf eine Familieneinheit im Bundesgebiet zu entsprechen. Die in Art. 6 Abs. 1, 2, 5 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie und auch die Rechte nicht ehelicher Kinder zu schützen und zu fördern hat, verpflichtet die Gerichte und die Ausländerbehörden jedoch, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen und angemessen zu berücksichtigen (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 8. Dezember 2005 - 2 BvR 101/04 -, InfAuslR 2006, 122-126; BVerfG, Beschluss vom 30 Januar 2002 - 2 BvR 231/00 -, InfAuslR 2002, 171, 173).

Hiernach bedarf es zur Einschätzung der Schutzwirkung von Art 6 GG für den weiteren Verbleib des Antragstellers in der Bundesrepublik zunächst einer im vorliegenden summarischen Verfahren allerdings nicht mit der geforderten Verlässlichkeit zu leistenden Klärung der Aufenthaltsrechte der Kinder des Antragstellers und der Kindesmutter, die in deren anhängigem Klageverfahren - VG 24 A 65/03 - zu erfolgen hat. Im Erfolgsfalle könnte der Antragsteller mit Blick auf seine Kinder, von denen er jedenfalls bislang für die drei älteren die Vaterschaft anerkannt hat, sich auf den Schutz von Art 6 Abs. 2 GG berufen. Der Schutzbereich des Art 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet die Wahrnehmung der Elternverantwortung im Interesse des Kindeswohls (vgl. BVerfG, Urteil vom 12 Mai 1987 - 2 BvR 1226/83 -, BVerfGE 76, 1 ff.). Darüber hinaus ist das Zusammenleben auch eines nichtehelichen Vaters mit seinem Kind als geschützte Gemeinschaft nach Art. 6 Abs. 1 GG anzusehen (BVerfG, Urteil vom 24. März 1981 - 1 BvR 1561/78 -, 56, 363, 382; BVerwG, Urteil vom 30. April 1986 - 1 C 33/81 -, BVerwGE 71, 228, 231 f.).

Hinsichtlich der Aufenthaltssituation der Kinder und der Kindesmutter ist zwar festzustellen, dass der Antragsgegner diesen mit Bescheid vom 9. März 2005 die weitere Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis versagt hat, wogegen diese jedoch vor dem Verwaltungsgericht Berlin Klage (24 A 65/05) erhoben haben. Der Ausgang dieses Verfahrens kann z. Z. nur als offen eingeschätzt werden.

Nach dem vorliegenden libanesischen Reiseausweis und dem libanesischen Pass der Kindesmutter handelte es sich bei ihr um die ... geb. ... in Beirut. Insofern kann in der Angabe dieser Personalien z. Z. nicht mit Sicherheit von einer Täuschung deutscher Behörden ausgegangen werden. Diese könnte allerdings auch in einem Verschweigen einer gleichzeitigen türkischen Identität bestehen.

Selbst wenn sich im Laufe des Klageverfahrens der Kindesmutter erweisen sollte, dass diese (eventuell auch) türkische Staatsangehörige sein sollte, erscheint es zweifelhaft, ob ihr gegenüber, die als Kleinkind in die Bundesrepublik gekommen und in einer wohl arabisch sprechenden Familie aufgewachsen ist, unter diesen Umständen ein Vorwurf der Täuschung deutscher Behörden gemacht werden könnte, der für sich die Versagung einer weiteren Aufenthaltserlaubnis rechtfertigte. Gerade auf diesen Vorwurf stellt der Antragsgegner aber mit seiner Antragserwiderung mit Blick auf Verhältnismäßigkeitserwägungen weiterhin maßgeblich ab. Es dürfte deshalb in diesem Klageverfahren voraussichtlich auf weitere Fragen des Aufenthaltsrechts für den Personenkreis der Mahalmi aus dem Mardin ankommen, dem die Familie des Antragstellers möglicherweise zuzurechnen ist, wozu der Antragsgegner im Klageverfahren der Kindesmutter mit Schriftsatz vom 11. Dezember 2006 umfänglich Stellung genommen hat (vgl. hierzu nur OVG Lüneburg, Urteil vom 20. Mai 2006 - 11 B 35/03 -, in Juris; Oberdiek, Gutachten zur Situation arabisch-stämmiger Bewohner der Provinz Mardin, Flüchtlingsrat 2001, 72 ff.). Dabei wird voraussichtlich von Bedeutung sein, inwiefern insbesondere der Kindesmutter und den Kindern auch unter Berücksichtigung von Artikel 8 EMRK eine Rückkehr in ihre Heimat bzw. in den Staat ihrer Staatsangehörigkeit zumutbar ist. Dem in Art. 8 Abs. 2 EMRK verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann es nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Hinblick auf die Folgen für den Ausländer widersprechen, durch behördliche Maßnahmen die Voraussetzungen für sein weiteres Zusammenleben mit seiner im Vertragsstaat ansässigen Familie zu beseitigen (vgl. EGMR, Urteile vom 26. März 1992 - 55/1990/246/317 - Beldjoudi, InfAuslR 1994, 86 ff. und vom 26. September 1997 - 85/1996/704/896 - Mehemi, InfAuslR 1997, 430). Eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kommt danach etwa bei Ausländern in Betracht, die aufgrund ihrer gesamten Entwicklung faktisch zu Inländern geworden sind und denen wegen der Besonderheiten des Falles ein Leben im Staat ihrer Staatsangehörigkeit, zu dem sie keinen Bezug haben, nicht zuzumuten ist. Dabei ist nicht zu verkennen, dass Art 8 EMRK den Vertragsstaaten auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte hinsichtlich des Begriffs der Achtung des Familien- und Privatlebens einen weiten Ermessensspielraum belässt und das Recht eines Staates, über die Einreise, den Aufenthalt und die Abschiebung fremder Staatsangehöriger zu entscheiden, ausdrücklich anerkennt (z. B. Urteil vom 28. Mai 1985, - 15/1983/71/107.109, Abdulaziz u.a. -, NJW 1986, 3007 ff., vgl. auch Urteil vom 7. Oktober 2004 - 33743/03, Dragan -, NVwZ 2005, 1043 ff.). Die Konvention verbietet die Abschiebung eines fremden Staatsangehörigen deshalb nicht allein deswegen, weil dieser sich eine bestimmte Zeit im Hoheitsgebiet des Vertragsstaates aufgehalten hat (z. B. EGMR, Urteil vom 7. Oktober 2004 - 33743/03, Dragan -, Urteil vom 16. September 2004 - 11103/03, Ghiban -, NVwZ 2005, 1046 ff.) Allein der Umstand, dass ein Ausländer als Kind in den Vertragsstaat eingereist, dort aufgewachsen und zur Schule gegangen ist, vermag nicht ohne weiteres eine Unzumutbarkeit der Ausreise in den Herkunftsstaat zu begründen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 18. Januar 2006 - 13 S 2220/05 -, ZAR 2006, 142-145 m.w.N,). Für die Feststellung, dass eine Rückkehr nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unzumutbar ist, bedarf es vielmehr weiterer Anhaltspunkte (vgl. den Überblick über die nach der stark einzelfallbezogenen Rechtsprechung des EGMR maßgeblichen Gesichtspunkte im Beschluss der 1. Kammer des 2. Senats des BVerfG vom 1. März 2004 - 2 BvR 1570/03 -, NVwZ 2004, 852 ff.). In diesem Rahmen wäre zugleich von Bedeutung, ob entsprechend der Annahme des Antragsgegners die Türkei als Heimat der Kindesmutter angesehen werden kann. Nach bisheriger Erkenntnislage kann - wohl entgegen der Einschätzung des Verwaltungsgerichts - nicht angenommen werden, dass sie sich überhaupt jemals in der Türkei, allenfalls aber bis zum dritten Lebensjahr, dort aufgehalten hat.