§ 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK für somalische Staatsangehörige wegen drohender Genitalverstümmelung; § 60 Abs. 7 AufenthG wegen Asthma Bronchiale; kein Ausschluss eines krankheitsbedingten Abschiebungshindernisses gem. § 60 Abs. 7 AufenthG durch Mitgabe oder Finanzierung von Medikamenten, wenn dadurch der Schadenseintritt lediglich verschoben wird; kein landesweiter bewaffneter Konflikt gem. Art. 15 Bst. c der Qualifikationsrichtlinie; keine extreme allgemeine Gefahrenlage
(Leitsätze der Redaktion)
Die gemäß §§ 51 Abs. 5, 48, 49 VwVfG gebotene pflichtgemäße Ermessensentscheidung über das Wiederaufgreifen des Verfahrens hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungsverboten führt (nur) insoweit zum Erfolg der Klage, als hinsichtlich der Klägerin zu 3) wegen der ihr drohenden Genitalverstümmelung die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Somalias vorliegen, und hinsichtlich des Klägers zu 4) ein krankheitsbedingtes zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG hinsichtlich Somalias gegeben ist.
Diese Voraussetzungen sieht das Gericht in dem festgestellten Umfang als gegeben an, weil hinsichtlich der Klägerin zu 3) und des Klägers zu 4) von einer extremen individuellen Gefahrensituation im Falle ihrer Einreise nach Somalia auszugehen ist.
Hinsichtlich der Klägerin zu 3) sieht das Gericht eine solche extreme Gefahrensituation darin, dass dieser mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine traditionelle Genitalverstümmelung droht. Dies stellt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK dar. Nach Art. 3 der Konvention zur Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II S. 686) darf u.a. niemand unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung unterworfen werden. Derartige Behandlung droht der Klägerin aber zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, denn ihr droht die traditionelle Genitalverstümmelung ("Pharaonische Beschneidung/Infibulation") in Somalia. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes (vom 7. Februar 2006) erleiden Mädchen im Alter von zehn bis dreizehn Jahren diese traditionelle Genitalverstümmelung in ihrer weitestgehenden Form. In einem von UNDP (United Nations Development Programme) herausgegebenen Bericht wird eine Beschneidungsrate für Frauen von 99,4 % angegeben (vgl. auch Lagebericht, aaO., S. 15). Nach dem Lagebericht vom 17. März 2007 wird die weibliche Genitalverstümmelung in Somalia landesweit an ca. 98 % der Mädchen und jungen Frauen praktiziert. Der hohe Grad der beschnittenen Frauen lässt den Schluss zu, dass auch die zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung 17 Jahre alte Klägerin zu 3) im Falle einer Einreise nach Somalia einer Beschneidung nicht würde entgehen können. Für die Frage, ob die der Klägerin zu 3) drohende Beschneidung eine unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellt, ist es unerheblich, dass es sich nicht unmittelbar um staatliche Verfolgung handelt. Es liegt jedenfalls eine mittelbare staatliche Verfolgung in Form der quasistaatlichen Verfolgung dar, weil die Organisationen, die die staatlichen Funktionen in Somalia ausüben und die effektive Gebietsgewalt innehaben, diese unmenschliche Behandlung tatenlos hinnehmen und damit den erforderlichen Schutz versagen, weil sie hierzu nicht willens sind. Dabei geht das Gericht davon aus, dass in Somalia seit 1991 eine allgemein anerkannte Regierung nicht besteht und insoweit ein politisches Vakuum besteht. Dieses wird in Süd- und Zentralsomalia von Clanführern und Milizenchefs ausgefüllt. In Nordostsomalia wurde der Regionalstaat "Puntland" ausgerufen, in Nordwestsomalia die "Republik Somaliland". Bezogen auf die Gefahr der Genitalverstümmelung zeigt jedenfalls die nach wie vor bestehende Beschneidungsrate von 98 %, dass die Organisationen, die den Staat verdrängt haben, nicht willens oder in der Lage sind, die Genitalverstümmelungen zu verhindern und damit den betroffenen Frauen den erforderlichen Schutz zu gewähren.
Hinsichtlich des Klägers zu 4) ist ein Wiederaufgreifen des Verfahrens geboten, weil er bei einer Abschiebung einer extremen individuellen Gefahrensituation ausgesetzt wäre und ein Absehen von der Abschiebung daher verfassungsrechtlich zwingend geboten ist. Von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat soll gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgesehen werden, wenn dort für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Der Kläger zu 4) leidet ausweislich der von ihm vorgelegten ärztlichen Atteste seit Jahren unter einem Asthma bronchiale bei nachgewiesener Sensibilisierung gegen Hausstaubmilben, Katze, Kaninchen und Meerschweinchen. Nach Auskunft des Facharztes für Kinderheilkunde und Jugendmedizin ... (vom 8. April 2006, Bl. 34 der GA) besteht bei insuffizienter Therapie das Risiko eines schweren Asthmaanfalles mit Todesfolge. Eine derartige Gefahr entfällt vorliegend nicht deshalb, weil die zuständige Ausländerbehörde des Landkreises Helmstedt am 19. März 2007 (Bl. 71 der GA) sich bereit erklärt hat, die Kosten für das Medikament Symbicort für ein Jahr zu übernehmen. Zwar kann eine konkrete Gefahr entfallen, wenn für einen ausreichend bemessenen Übergangszeitraum die Behandlung durch Finanzierung der erforderlichen Medikamente oder durch Mitgabe eines Medikamentenvorrates erfolgt und mit hinreichender Sicherheit erwartet werden kann, dass danach die erforderliche weitere Behandlung im Zielstaat dem Ausländer zur Verfügung steht (vgl. VGH Kassel, Beschl. vom 23.02.2006 - 7 UZ 269/06.A -, NVwZ 2006, 1203; OVG NRW, Beschl. vom 22.01.2007 - 18 E 274/06 -). Vorliegend besteht jedoch die Besonderheit, dass die Gefahr nicht schon dann mit der notwendigen Sicherheit entfällt, wenn dem Kläger zu 4) - unterstellt - lediglich das Medikament Symbicort zur Verfügung steht. Denn der Kläger zu 4) benötigt nicht lediglich das Medikament Symbicort, sondern auch ausreichende ärztliche Versorgung sowie ggf. weitere Medikamente. Unabhängig davon dürfte eine Gefahrenlage i.S.v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in der Regel zu bejahen sein, wenn im Entscheidungszeitpunkt - wie hier - noch ungewiss ist, ob nach Verbrauch der Mittel für Medikamente oder eines Medikamentenvorrates die im Zielstaat bislang noch nicht vorhandene Behandlungsmöglichkeit dann erstmalig gegeben sein wird (vgl. auch VGH Kassel, aaO.). Ob eine konkrete Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG immer dann entfällt, wenn die Medikamentenbehandlung im Heimatstaat für lediglich ein Jahr gesichert ist (vgl. dazu auch OVG Lüneburg, Beschl. vom 13.11.2006 - 1 LB 116/06 -), ist deshalb vorliegend nicht entscheidungserheblich. Unabhängig davon schließt nach Auffassung des erkennenden Gerichts der humanitäre Ansatz des § 60 Abs. 7 AufenthG es vor dem Hintergrund des Menschenbildes des Grundgesetzes aus, eine "konkrete" Gefahr zu verneinen, wenn feststeht, dass die medikamentöse Behandlung der lebensbedrohlichen Erkrankung eines Ausländers in seinem Heimatland für ein Jahr gesichert wäre, er aber danach dem nahezu sicheren Tod ausgesetzt sein würde.
Die Klage ist unbegründet, soweit sie auf die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG für die Kläger zu 1) und 2) und für den Kläger zu 5) gerichtet ist. Insbesondere haben diese Kläger keinen Anspruch darauf, dass ihre auch insoweit bestandskräftig abgeschlossenen Verfahren hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 7 AufenthG wieder aufgegriffen werden. Zwar ist (weiterhin) davon auszugehen, dass die Sicherheitslage in Zentral- und Südsomalia, insbesondere in der Hauptstadt Mogadischu, aufgrund der bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Clans, Milizen und Banden äußerst prekär ist (vgl. Lageberichte des AA vom 07.02.2006 und 17.03.2007). Allerdings bestehen nach wie vor in ganz Somalia grundsätzlich Ausweichmöglichkeiten, auch wenn sie häufig schwierig zu erreichen sind.
Ist somit das Ermessen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nicht reduziert, so ergibt sich eine andere Beurteilung auch nicht unter Anwendung der Regelungen in § 15c der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 (sog. Qualifikationsrichtlinie). Zum einen verhält sich diese Richtlinie nicht zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen ein bestandskräftig abgeschlossenes Verfahren wieder aufzugreifen ist. Zum anderen würde sich aus den genannten Vorschriften der Qualifikationsrichtlinie auch kein Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG herleiten lassen. Denn die Voraussetzungen für die Gewährung eines sog. subsidiären Schutzes nach Art. 15c der Richtlinie liegen nicht vor. Zwar ist davon auszugehen, dass von der Abschiebung eines Ausländers danach auch dann abzusehen ist, wenn er im Herkunftsstaat im Rahmen eines bewaffneten Konflikts als Angehöriger der Zivilbevölkerung gebietsweise einer erheblichen individuellen konkreten Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt ist. Einer solchen gebietsweisen (Art. 8 der Richtlinie) Gefahrenlage unterliegen die Kläger jedoch nach den vorangegangenen Ausführungen nicht. Unabhängig davon kann nach den Begründungserwägungen Nr. 26 zur Richtlinie 2004/83/EG auch ein Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG grundsätzlich nicht aus Gefahren hergeleitet werden, denen eine Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt ist.