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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 12.06.2007 - 10 C 24.07 - asyl.net: M10826
https://www.asyl.net/rsdb/M10826
Leitsatz:

Im Falle des Widerrufs einer Anerkennung als Asylberechtigter oder Flüchtling nach § 73 Abs. 1 AsylVfG findet die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG jedenfalls in den Fällen keine Anwendung, in denen die Anerkennung innerhalb der Drei-Jahres-Frist des § 73 Abs. 2a AsylVfG widerrufen wird.

Es bleibt offen, ob dies auch für Widerrufsentscheidungen nach Ablauf der Drei-Jahres-Frist gilt.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Verfahrensrecht, Ermessen, Altfälle, Rückwirkung, Anwendungszeitpunkt, Jahresfrist, Machtwechsel, Änderung der Sachlage, Gruppenverfolgung, Christen, nichtstaatliche Verfolgung, Verfolgung durch Dritte, geschlechtsspezifische Verfolgung
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 2a; VwVfG § 49 Abs. 2 S. 2; VwVfG § 48 Abs. 4; AufenthG § 60 Abs. 1; RL 2004/83/EG Art. 14 Abs. 1
Auszüge:

1. Das Verwaltungsgericht und der Verwaltungsgerichtshof haben das Klagebegehren zutreffend nach der neuen, durch das Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 1. Januar 2005 geänderten Rechtslage beurteilt.

Zwar gilt § 73 Abs. 2a AsylVfG grundsätzlich auch für den nach dem 1. Januar 2005 ausgesprochenen Widerruf von Anerkennungen, die vor diesem Zeitpunkt unanfechtbar geworden sind. Die darin vorgesehene neue Drei-Jahres-Frist, nach deren Ablauf das Bundesamt spätestens erstmals die Widerrufsvoraussetzungen prüfen muss, beginnt allerdings erst vom 1. Januar 2005 an zu laufen. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht im Einzelnen in seinem Urteil vom 20. März 2007 im Verfahren BVerwG 1 C 21.06 (zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung BVerwGE vorgesehen) ausgeführt. Hierauf wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.

Das Bundesverwaltungsgericht hat bisher offen gelassen, ob die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG auch in Widerrufsverfahren nach § 73 Abs. 1 AsylVfG gilt. Es entscheidet die Frage nunmehr dahin, dass die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG jedenfalls in den Fällen keine Anwendung findet, in denen - wie hier - die Anerkennung innerhalb der Drei-Jahres-Frist des § 73 Abs. 2a Satz 1 AsylVfG widerrufen wird. Ob dies auch für Widerrufsentscheidungen nach Ablauf der Drei-Jahres-Frist gilt, lässt der Senat offen.

Der Gesetzgeber hat mit Einführung der Drei-Jahres-Frist nach § 73 Abs. 2a AsylVfG zum 1. Januar 2005 eine bereichsspezifische Regelung für den Widerruf und die Rücknahme von Asyl- und Flüchtlingsanerkennungen durch das Bundesamt getroffen, die die allgemeine Widerrufsfrist nach dem Verwaltungsverfahrensgesetz verdrängt. Zu der vor dem 1. Januar 2005 geltenden Regelung des § 73 Abs. 1 und 2 AsylVfG hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt, dass die Bestimmungen des allgemeinen Verwaltungsrechts neben den spezialgesetzlichen Regelungen in § 73 AsylVfG anwendbar sind, soweit diese Raum dafür lassen (Urteil vom 19. September 2000 - BVerwG 9 C 12.00 - BVerwGE 112, 80 88>). Jedenfalls seit Einführung der Drei-Jahres-Frist, nach deren Ablauf das Bundesamt spätestens die Widerrufsvoraussetzungen prüfen und das Ergebnis der Ausländerbehörde mitteilen muss, ist für die zusätzliche Anwendung einer parallel laufenden Jahresfrist nach den allgemeinen Bestimmungen kein Raum. Der zwingende Widerruf einer Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung kann nach jetziger Rechtslage vom Bundesamt nicht mehr - wie bisher - zeitlich unbegrenzt, sondern nur noch in einem Zeitraum von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Anerkennung zuzüglich eines angemessenen Prüfungszeitraums ausgesprochen werden. Damit hat der Gesetzgeber dem Bundesamt einen bestimmten, auf die Besonderheiten des Asyl- und Ausländerrechts abgestimmten zeitlichen Rahmen vorgegeben, der nach dem Sinn und Zweck der Regelung erkennbar abschließend ist und nicht durch weitere (allgemeine) Fristen wieder verengt werde sollte. Hierfür spricht auch die Begründung des Gesetzentwurfs, "dass die Vorschriften über den Widerruf und die Rücknahme, die in der Praxis bislang weitgehend leer gelaufen sind, an Bedeutung gewinnen" sollen (BT-Drucks 15/420 S. 112). Muss ein als Asylberechtigter oder als Flüchtling im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG anerkannter Ausländer während der Drei-Jahres-Frist des § 73 Abs. 2a AsylVfG bei Wegfall der Anerkennungsvoraussetzungen regelmäßig mit dem Widerruf des Anerkennungsbescheids rechnen, genießt er nach der gesetzlichen Konzeption jedenfalls in diesem Zeitraum kein schutzwürdiges Vertrauen hinsichtlich der Aufrechterhaltung seines Asyl- bzw. Flüchtlingsstatus. Damit fehlt ein Anknüpfungspunkt für die Anwendung des § 49 Abs. 2 Satz 2, § 48 Abs. 4 VwVfG; denn im System des § 48 VwVfG ist wohl auch die Fristregelung Ausdruck des Vertrauensschutzes (vgl. Urteil vom 27. April 2006 - BVerwG 3 C 23.05 - BVerwGE 126, 7 14>). Daher erweist es sich im vorliegenden Fall als unschädlich, dass zwischen dem Abschluss des Anhörungsverfahrens mit Eingang des Anwaltsschriftsatzes vom 17. Mai 2004 und dem Widerrufsbescheid vom 17. August 2005 eine Zeitspanne von mehr als einem Jahr verstrichen ist.

2. Ob der Widerruf im Übrigen den gesetzlichen Anforderungen aus § 73 Abs. 1 AsylVfG entspricht und das Bundesamt deshalb zugleich befugt war, über das Bestehen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zu entscheiden (vgl. Urteil vom 20. April 1999 - BVerwG 9 C 29.98 - Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 18), kann der Senat auf der Grundlage des Berufungsurteils nicht abschließend selbst beurteilen.

a) Allerdings verfehlt das angefochtene Urteil nicht bereits in seinem Ansatz die vom Bundesverwaltungsgericht in dem zitierten Urteil vom 18. Juli 2006 - BVerwG 1 C 15.05 - a.a.O. klargestellten Maßstäbe zur Auslegung der Widerrufsermächtigung in § 73 Abs. 1 AsylVfG.

b) Hingegen sind die Erwägungen des Berufungsgerichts dazu, dass den Klägern - bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der Berufungsverhandlung im Juli 2006 - bei einer Rückkehr in den Irak nicht erneut eine (andere) Verfolgung im Sinne von § 60 Abs. 1 AufenthG droht, mit Bundesrecht nicht in vollem Umfang vereinbar.

Insoweit hat der Verwaltungsgerichtshof im Ausgangspunkt zutreffend geprüft, ob den Klägern nunmehr bei einer Rückkehr in den Irak eine (Gruppen-) Verfolgung als Christen durch nichtstaatliche Akteure droht. Die Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs, mit denen er eine derartige Gruppenverfolgung der Christen im Irak verneint hat, genügen indes nicht den Anforderungen, die auch an die Prüfung und Ermittlung einer Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu stellen sind. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht bereits in seinem Urteil vom 18. Juli 2006 zu inhaltlich gleichlautenden Ausführungen in dem damals zu überprüfenden Berufungsurteil des gleichen Senats des Berufungsgerichts näher dargelegt (BVerwG 1 C 15.05 - a.a.O. Rn. 20 - 25). Hierauf wird Bezug genommen.

Aus den gleichen Gründen wird auch die Prüfung, ob den Klägerinnen zu 2 bis 4 als der christlichen Minderheit angehörige Frauen bzw. Mädchen bei einer Rückkehr in den Irak Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG droht, den Anforderungen der Rechtsprechung an die Feststellung einer Gruppenverfolgung nicht gerecht.