VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 26.06.2007 - A 6 K 92/07 - asyl.net: M10866
https://www.asyl.net/rsdb/M10866
Leitsatz:
Schlagwörter: Irak, Racheakte, Blutrache, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, ernsthafter Schaden, bewaffneter Konflikt, allgemeine Gefahr, Erlasslage, Abschiebungsstopp
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AufenthG § 60 Abs. 7; RL 2004/83/EG Art. 15 Bst. c
Auszüge:

Die Klage ist zulässig, sie ist aber nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte und auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen von § 60 Abs. 1 AufenthG.

Die Klägerin macht selbst nicht geltend, sie befürchte bei einer Rückkehr in den Irak politische Verfolgung. Vielmehr hat sie sich bei ihrer Anhörung durch das Gericht allein darauf berufen, dass sie Rache durch den mächtigen Al-Juburi-Stamm wegen dessen Fehde mit ihrem Ehemann befürchte. Solche Racheakte wären aber nicht politisch motiviert (vgl. zu diesem Vorbringen der Klägerin im übrigen die Ausführungen weiter unten).

Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG kann nicht festgestellt werden, so dass die Klage auch insoweit erfolglos bleibt. Individuelle landesweite Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit hat die Klägerin nicht glaubhaft gemacht. Ihr Vortrag zur befürchteten Blutrache steht im klaren Widerspruch zu der Auskunftslage. Nach den Stellungnahmen des besonders sachkundigen Europäischen Zentrums für kurdische Studien an das VG Köln vom 12.11.2005 und vom 26.02.2007, an deren Richtigkeit das Gericht nicht zweifelt, müssen die involvierten Personen bei einer klassischen Blutrache gleich sein, u. a. was das Geschlecht anbelangt. Die hier in Rede stehende Blutrache beruht aber auf der Tat eines Mannes (vgl. das Urteil des erkennenden Gerichts vom 11.04.2006 - A 6 K ... im Verfahren des Ehemannes). Die Klägerin kommt mithin als "gleiches" Opfer nicht in Frage.

Soweit nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wegen der unmittelbar anwendbaren Qualifikationsrichtlinie – insbesondere Art 15 Buchstabe c – von einer Abschiebung des Ausländers in einen Staat auch dann abzusehen ist, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit seiner Person infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts ausgesetzt ist, ist eine solche erhebliche individuelle Bedrohung ebenfalls – wegen des dazu fehlenden konkreten Vortrags und wegen auch sonst fehlender Anhaltspunkte – nicht festzustellen. Denn auch diese Schutzgewährung setzt voraus, dass die Auseinandersetzung ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit besitzen muss; als typische Beispiele gelten Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe, während örtlich und zeitliche begrenzte "Bandenkriege" und allgemeine mit bewaffneten Konflikten in Zusammenhang stehende Gefahren für sich alleine nicht genügen. Bei der allgemein unsicheren Lage, den terroristischen Anschlägen und den wirtschaftlich schlechten Lebensbedingungen im Irak handelt es sich dagegen um Gefahren allgemeiner Art, die nicht zum Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen, weil ihnen die gesamte Bevölkerung des Irak – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – ausgesetzt ist.

Ausnahmsweise dürfen das Bundesamt und die Verwaltungsgerichte allerdings im Einzelfall Ausländern, die zwar einer gefährdeten Gruppe im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht besteht, Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 AufenthG dann zusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer außergewöhnlichen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzten würde. Das gilt allerdings nicht, wenn aus anderweitigen, nicht unter § 60 Abs. 2, 3, 5 und Absatz 7 Satz 1 AufenthG oder § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG fallenden Gründen ein gleichwertiger Abschiebungsschutz besteht (siehe zur Definition der Gleichwertigkeit BVerwG, Urteil vom 12.07.2001 a.a.O.; Beschluss vom 17.09.2005 - 1 B 13.05 (PKH 7.05); siehe auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 16.09.2004 a.a.O.).

Nach der Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg (Urteile vom 04.05.2006 a.a.O. und vom 16.09.2004 a.a.O.), der das Gericht folgt, besteht im Falle der Klägerin aber ein gleichwertiger Abschiebungsschutz auf der Grundlage der baden-württembergischen Erlasslage, der die Feststellung eines Abschiebungsverbots in verfassungskonformer Anwendung von § 60 Abs. 7 AufenthG ausschließt. So hat nach dem Beschluss der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren vom 21.11.2003 (abgedruckt u. a. im Asylmagazin 2003, 15) eine freiwillige Rückkehr in den Irak Vorrang vor der zwangsweisen Rückführung dorthin, von der erst nach Schaffung eines abgestimmten Konzepts des Bundes mit den Ländern Gebrauch gemacht werden soll. Dem Rechnung tragend, hat das Innenministerium Baden-Württemberg durch Erlass vom 27.11.2003 (413IRK/12) entschieden, dass irakischen Staatsangehörigen Duldungen erteilt werden bzw. ausgesprochene Duldungen verlängert werden.