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VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 26.06.2007 - A 6 K 394/07 - asyl.net: M10868
https://www.asyl.net/rsdb/M10868
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für westlich orientierte Frau aus dem Irak.

Schlagwörter: Irak, Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Frauen, Flüchtlingsfrauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Familienehre, Übergriffe, Bekleidungsvorschriften, nichteheliche Kinder, alleinstehende Frauen, westliche Orientierung
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 1
Auszüge:

Die Klage ist mit dem Hauptantrag zulässig und begründet. Der Widerruf der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und die Feststellung, dass das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegt, sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

Der Klägerin würde bei einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifische Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure im gesamten Irak drohen, ohne dass der Staat oder staatsähnliche Organisationen sie davor schützen könnten (§ 60 Abs. 1 Sätze 1, 3 und 4 c AufenthG). Es besteht also nicht nur eine Verfolgungssituation im Sinne von § 60 Abs. 7 AufenthG, über deren Vorliegen das Bundesamt in der Tat nicht entschieden hat.

Ein typischer Fall der geschlechtsspezifischen Verfolgung ist die Entrechtung von Frauen, sei es durch sexuelle oder sonstige Gewalt, "Ehrenmorde", fortlaufende Diskriminierung in der Öffentlichkeit und in der Familie, aber auch durch die Praxis, Frauen, die sich den herrschenden repressiven Vorschriften über die Bekleidung und das Auftreten in der Öffentlichkeit verweigern, zu misshandeln oder ihnen noch Schlimmeres anzutun. All dies geschieht im gesamten Irak fortlaufend, wie das Gericht den verwerteten Erkenntnismitteln entnimmt.

Das Auswärtige Amt führt im Lagebericht vom 11.01.2007 (wie schon in früheren Stellungnahmen) aus, die prekäre Sicherheitslage und wachsende fundamentalistische Tendenzen hätten negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Der US-Menschenrechtsbericht 2005 erläutere, dass irakische Frauen in Basra getötet worden seien, weil sie traditionelle Bekleidungsvorschriften nicht befolgt hätten. Die irakische Polizei berichte, dass es im Juli 2005 in Bagdad mehrere Fälle von Säureattentaten gegen Frauen gegeben habe, weil die Opfer es abgelehnt hätten, sich zu verschleiern. In der irakischen Gesellschaft seien Tendenzen zur Durchsetzung islamischer Regeln, z. B. Kleidervorschriften, erkennbar und nähmen zu. Frauen würden verstärkt unter Druck gesetzt, was ihre Freizügigkeit und ihre Möglichkeiten zur Teilnahme am öffentlichen Leben einschränke. Ähnliches beschreibt UNHCR in seinen Anmerkungen zur Situation von Frauen im Irak (vgl. im einzelnen Seiten 4 ff). UNHCR führt auch ausdrücklich aus, die irakischen Behörden seien nicht in der Lage, ausreichenden Schutz gegen Verfolgungen durch nichtstaatliche Akteure zu bieten (Seiten 8 und 9). In der Verlautbarung vom 05.04.2007 wird die bisherige Einschätzung aufrecht erhalten.

Von derartiger Verfolgung wird speziell auch die Klägerin betroffen sein. Sie machte auf das Gericht in der mündlichen Verhandlung den Eindruck einer "westlich" orientierten, selbstbewussten jungen Frau. Sie unterscheidet sich im "Outfit" und Verhalten nicht von einer Deutschen gleichen Alters. Das Gericht nimmt ihr ohne weiteres ab, dass sie viel besser Deutsch als Kurdisch spricht. Sie ist nicht religiös und kann mit den Begriffen "Schiiten" und "Sunniten" nichts anfangen. Sie möchte einen Beruf (Krankenschwester) erlernen und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Zudem hat sie ein nichteheliches Kind. Mit ihrer Lebensweise ist sie selbst bei ihrer Mutter angeeckt und hat mit ihr längere Zeit keinen Kontakt gehabt. Umso mehr würde sie bei einer Rückkehr in den Irak, den sie im Alter von zehn Jahren verlassen hat, Anstoß erregen, und zwar selbst wenn sie sich (was sie aber nicht will) in der Öffentlichkeit den dortigen Bekleidungsvorschriften unterwerfen würde. Als unverheiratete Frau mit einem kleinen Kind, die im Irak keine näheren Verwandten und auch keine Freunde hat, mit ihrem selbstbewussten Auftreten sowie bei ihrer Unkenntnis der religiösen Vorschriften und der unvollkommenen Beherrschung der Landessprache würde sie mit großer Wahrscheinlichkeit alsbald ins Blickfeld von Fundamentalisten geraten; dies würde dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu den von UNHCR und dem Auswärtigen Amt beschriebenen schlimmen Repressalien führen, ohne dass sie Schutz vor Verfolgung erwarten könnte (ebenso in einem ähnlichen Fall VG Göttingen, Urteil vom 31.01.2006 - 2 A 227/05, Juris und ebenso für Frauen, die im Irak nicht im Familienverbund leben: Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 16.02.2006 - 9 LB27/03, Juris).