OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26.06.2007 - 11 A 1818/05.A - asyl.net: M10869
https://www.asyl.net/rsdb/M10869
Leitsatz:
Schlagwörter: Guinea, Berufungszulassungsantrag, Verfahrensrecht, Verfahrensmangel, Sachaufklärungspflicht, Hinweispflicht, rechtliches Gehör, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Krankheit, HIV/Aids, Hepatitis B, allgemeine Gefahr, extreme Gefahrenlage
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 3; VwGO § 138 Nr. 3; VwGO § 86 Abs. 1; AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

2. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

Es ist zunächst festzuhalten, dass die Verfahrensrüge einer nicht ordnungsgemäßen Aufklärung des Sachverhalts kein Berufungszulassungsgrund im asylverfahrensrechtlichen Sinn ist. Eine mögliche Verletzung der dem Gericht gemäß § 86 Abs. 1 VwGO obliegenden Aufklärungspflicht gehört nicht zu den in § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i. V. m. § 138 VwGO bezeichneten Verfahrensmängeln, bei deren Vorliegen die Berufung zuzulassen ist (OVG NRW, Beschluss vom 31. März 2003 - 11 A 3518/02.A -, n.v. (in juris), m.w.N.).

Eine unterbliebene, allerdings gebotene Sachverhaltsaufklärung kann zwar im Einzelfall einen Verstoß gegen das rechtliche Gehör darstellen. Ein solcher Gehörsverstoß liegt hier aber nicht vor, weil es Sache des – zudem im gesamten gerichtlichen Verfahren anwaltlich vertretenen – Klägers war, umfassend und widerspruchsfrei zu seinem behaupteten Verfolgungsschicksal vorzutragen. Darüber hinaus begründet das Recht auf rechtliches Gehör keine Pflicht des Gerichts, die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte Würdigung des Sachverhalts hinzuweisen, weil sich die tatsächliche und rechtliche Würdigung regelmäßig erst auf Grund der abschließenden Beratung bzw. – wie hier – Entscheidungsfindung durch den Einzelrichter ergibt.

b) Die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG) der Frage, "ob Personen die unter einer HIV-Infektion Stadium A2 sowie unter chronischer Hepatitis B leiden und nach Ablehnung ihres Asylantrages die Rückreise in ihr Heimatland Guinea antreten müssen, dort aufgrund ihrer Erkrankungen sowie der nicht vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten im Heimatland lediglich einer allgemeinen Gefahr ausgesetzt sind, der die Bevölkerung generell ausgesetzt ist", rechtfertigt ebenfalls nicht die Zulassung der Berufung.

Das Verwaltungsgericht hat unter Benennung konkreter Quellenangaben die Feststellung getroffen, dass in Guinea eine mit Blick auf § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG beachtliche Bevölkerungsgruppe HIV-infiziert ist (Urteilsabdruck S. 26). Dem tritt der Zulassungsantrag nicht hinreichend substantiiert entgegen.

Eine klärungsbedürftige Rechtsfrage, die sich im vorliegenden Fall im Zusammenhang mit der Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG stellen könnte, wird von der Antragsschrift nicht aufgeworfen. Ausgehend von den nicht substantiiert angegriffenen Feststellungen erster Instanz zu dem Anteil der HIV-Infizierten in Guinea ist vielmehr in Anwendung der höchstrichterlichen Rechtsprechung – vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 1998 - 9 C 13.97 -, Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 12, S. 61, vom 12. Juli 2001 - 1 C 5.01 -, BVerwGE 115, 1 (4 ff.), und vom 17. Oktober 2006 - 1 C 18.05 -, BVerwGE 127, 33 (36 f.) – ohne weiteres eine Gruppengefahr und damit die Anwendbarkeit des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG anzunehmen. Mithin bedarf es hier – anders als bei zwar nicht singulären, aber weniger verbreiteten Krankheiten und solchen Erkrankungen, die unter ausländerpolitischen Gesichtspunkten eine Befassung der obersten Landesbehörden sowie eine (bundes-)einheitliche Praxis nicht erfordern – hinsichtlich des Abschiebungsschutzes aus Gesundheitsgründen wegen einer HIV-Infektion einer politischen Leitentscheidung nach § 60a AufenthG mit der Folge, dass § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht anwendbar, sondern durch § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG zunächst gesperrt ist. Da eine humanitäre Ermessensregelung nach § 60a AufenthG für AIDS-kranke Ausländer nicht existiert, dürfte der Kläger – worauf das Verwaltungsgericht bereits zutreffend hingewiesen hat – nur dann bei der gebotenen verfassungskonformen einschränkenden Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nicht nach Guinea abgeschoben werden, wenn er in seinem Heimatland wegen seiner Erkrankung eine extreme Gefahrenlage zu gewärtigen hätte, d. h. er dort alsbald nach der Abschiebung dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgesetzt wäre (vgl. zu § 53 Abs. 6 AuslG: BVerwG, Urteile vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324 (328), und vom 27. April 1998 - 9 C 13.97 -, a.a.O. (60 f.)).

Wie vom Zulassungsantrag nicht substantiiert angegriffen wird und auch im Übrigen nicht zu beanstanden ist, konnte das Verwaltungsgericht bei einer sich erst im (Anfangs-) Stadium A2 befindlichen HIV-Infektion zu der Beurteilung gelangen, dass der Ausländer in einem solchen Fall bei einer Abschiebung nicht in eine extreme Gefahrenlage geraten würde. Denn es ist nach der einschlägigen Rechtsprechung der Tatsachengerichte davon auszugehen, dass die strengen Voraussetzungen für die Gewährung von Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG in aller Regel (noch) nicht gegeben sind, wenn sich im Falle eines Ausländers, dem die Abschiebung in sein afrikanisches Herkunftsland angedroht worden ist, die HIV-Infektion erst im Stadium 1 (A2) befindet, also noch einige Jahren vergehen, bevor es zu AIDS-assoziierten bzw. AIDS-definierenden Erkrankungen kommt (vgl. etwa – jeweils m.w.N. – Nds. OVG, Beschluss vom 20. März 2003 - 10 LA 30/03 -, AuAS 2003, 126 ff. = in juris (Rdnr. 12); VG Augsburg, Urteile vom 28. Juni 2004 - Au 7 K 04.30362 -, in juris (Rdnr. 25), vom 17. Dezember 2004 - Au 1 K 03.30324 -, in juris (Rdnr. 27), vom 20. Juli 2005 - Au 1 K 05.30064 -, in juris (Rdnr. 24); VG Freiburg, Urteil vom 16. August 2005 - A 2 K 11517/04 -, Orientierungssätze in juris (Orientierungssatz 8)).