VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 15.05.2007 - AN 19 K 07.30080 - asyl.net: M10946
https://www.asyl.net/rsdb/M10946
Leitsatz:
Schlagwörter: Widerruf, Flüchtlingsanerkennung, Irak, Machtwechsel, allgemeine Gefahr, Genfer Flüchtlingskonvention, Wegfall-der-Umstände-Klausel, Anerkennungsrichtlinie, Schiiten, Baath, Mitglieder, Abschiebungshindernis, zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, Erlasslage, Abschiebungsstopp, extreme Gefahrenlage, Sicherheitslage, Versorgungslage
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1; AsylVfG § 73 Abs. 1; GFK Art. 1 C Nr. 5; RL 2004/83/EG Art. 11 ABs. 1 Bst. e; AufenthG § 60 Abs. 7
Auszüge:

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Zu Recht hat das Bundesamt die ehedem getroffene Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG widerrufen und des Weiteren zu Recht die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG verneint und das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG.

Allgemeinkundig und in Übereinstimmung mit den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen (insbesondere Lageberichte des Auswärtigen Amtes) hat sich die politische Situation im Irak durch die am 20. März 2003 begonnene und am 2. Mai 2003 weitgehend beendete Militäraktion grundlegend verändert. Saddam Hussein und sein Regime haben die politische und militärische Macht über den Irak verloren, womit eine politische Verfolgung durch das frühere Regime ausgeschlossen ist und also mit politischer Verfolgung von daher offenkundig nicht mehr zu rechnen ist.

Gewährt wurde der dem Kläger zuerkannte Flüchtlingsschutz wegen der Stellung seines Asylantrags in der Bundesrepublik Deutschland. Auf eine ihm deswegen heute noch drohende politische Verfolgung kann sich der Kläger – entsprechend vorstehenden Ausführungen – offensichtlich nicht mehr berufen. Politische Verfolgung im Sinn des § 60 Abs. 1 AufenthG droht dem Kläger auch nicht aus anderen Gründen, schon gar nicht mit der insofern geforderten beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Zur Annahme dem Kläger bei unterstellter heutiger Rückkehr drohender politischer Verfolgung führt insbesondere nicht sein Vortrag, Schiit zu sein und zudem Parteigänger der Baath-Partei. Geradezu absurd wäre die Annahme, dass Schiiten – von wem auch immer – im Irak in einer Weise verfolgt würden, dass man von der generellen Verfolgung der Schiiten ausgehen müsste. Auch besteht kein ernsthafter Anhaltspunkt für die Annahme, dass der Kläger als (ehemaliges) Baath-Mitglied verfolgt würde. Aus der Baath-Partei ist der Kläger nämlich schon Jahre vor seiner Ausreise ausgetreten und wurde schließlich ja sogar – ebenfalls Jahre vor der Ausreise – als Oppositioneller verfolgt und zu zwei Jahren Haft verurteilt, womit es nicht in Einklang gebracht werden kann, dass man den Kläger als Anhänger des alten Regimes ansieht.

Der Kläger kann sich auch nicht auf ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG berufen. Insbesondere steht dem Kläger kein Schutz vor Abschiebung nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG in der durch die ständige obergerichtliche Rechtsprechung (BVerwGE 99, 324 – zu § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG –) gewonnenen Auslegung zu. Dem steht schon entgegen, dass nach wie vor der von der Innenministerkonferenz (IMK) am 20./21. November 2003 gefasste und den bayerischen Ausländerbehörden mit Rundschreiben des Bayerischen Staatsministeriums des Inneren (IMS) vom 18. Dezember 2003 Gz. IA 22084.2013 mitgeteilte Beschluss Bestand hat, wonach zwangsweise Rückführungen ausreisepflichtiger irakischer Staatsangehöriger bis auf Weiteres faktisch nicht möglich sind. Dies hat zur Folge, dass den betreffenden Personen im Normalfall jeweils Duldungen für sechs Monate erteilt bzw. entsprechend verlängert werden. Hieran hat sich bis jetzt auch nach bisherigen Sitzungen der IMK nichts geändert. Damit besteht für irakische Asylbewerber in Bayern ein behördlicher Abschiebestopp, der die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG auslöst, da der so erreichte Schutz nicht hinter dem zurücksteht, der bei Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erreicht werden könnte (vgl. insgesamt BVerwG, Beschluss vom 10.9.2002 - 1 B 26/02, Buchholz 402.240, § 54 AuslG Nr. 6; VGH BadenWürttemberg, Urteil vom 16.9.2004 - A 2 S 471/02).

Im Übrigen ist nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen und den Erkenntnissen aus allgemein zugänglichen Medien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die gegenwärtige allgemeine Sicherheitslage im Irak so instabil ist, dass ein Iraker im Falle einer Abschiebung in sein Heimatland gewissermaßen "sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen" im Sinne der Rechtsprechung (zu § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG) oder Folter bzw. unmenschlicher Behandlung im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre. Den Erkenntnisquellen ist zu entnehmen, dass erkennbares Ziel von Anschlägen vor allem herausragende Persönlichkeiten bzw. besondere Einrichtungen, z.B. Rekrutierungseinrichtungen, sind. Zu beachten ist dabei, dass die Folgen dieser gewalttätigen Auseinandersetzungen und Anschläge die Bevölkerung gleichsam "blind" treffen können. Dies trägt allerdings die Annahme einer landesweit bestehenden extremen Gefahrenlage nicht (vgl. VGH Baden-Württemberg, a.a.O.).

Auch die allgemeine Versorgungslage im Irak stellt sich nicht als extrem existenzgefährdend dar. Die Unterstützung bei der Versorgung mit Lebensmitteln erfolgt durch das Public Distribution System (PDS). Die Stromversorgung leidet zwar zunehmend unter den Anschlägen auf die Elektrizitätswerke und wird wie die damit zusammenhängende Trinkwasserversorgung als kritisch bezeichnet, ohne dass jedoch von einer existenziellen Gefährdung ausgegangen werden kann. Die befürchtete humanitäre Katastrophe ist ausgeblieben, wobei die Lage im Nordirak wegen der dort vorhandenen Verwaltungsstrukturen besser ist als im Süden des Landes und im Zentralirak. Die medizinische Versorgung bleibt zwar angespannt, allerdings sind die Krankenhäuser im allgemeinen in der Lage, Patienten mit grundlegenden Arzneimitteln zu versorgen, auch wenn die Quantität und die Qualität der Medikamentenversorgung als unzureichend betrachtet werden muss.